gesammleten Begriffe haben immer mehr oder we- niger an dem Eindrucke gekünstelt, den die Sa- chen auf einen völlig noch uneingenommenen Geist machen würden. Selbst das, was wir für reine lautere Beobachtung halten, ist schon zum Theil aus unserm übrigen Gedankensystem gefolgert. -- Ueberdieß, je mehr wir uns die Hervorbringung und Zusammensetzung gewisser Gedanken Arbeit kosten lassen, desto mehr sind wir in Gefahr, die nächsten unmittelbarsten Verhältnisse der Begriffe zu übersehen, und dafür entferntere und weit her- gesuchte zu wählen. Die einfältige, nackende, einleuchtende Wahrheit, so wie sie sich dem bloß ruhigen Zuschauer der Natur von selbst darbietet, wird von dem zu geschäftig suchenden Geiste über- gangen, und an ihre Stelle sezt er eine Menge erkünstelter halb falscher Sätze, denen er erst durch den Ausdruck wieder einen Schein von Wahrheit und Aehnlichkeit mit der Sache selbst geben muß.
Das, was wir Anstrengung nennen, besteht nicht sowohl in einem gewissen Maaße der aufge-
J 3
der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
geſammleten Begriffe haben immer mehr oder we- niger an dem Eindrucke gekuͤnſtelt, den die Sa- chen auf einen voͤllig noch uneingenommenen Geiſt machen wuͤrden. Selbſt das, was wir fuͤr reine lautere Beobachtung halten, iſt ſchon zum Theil aus unſerm uͤbrigen Gedankenſyſtem gefolgert. — Ueberdieß, je mehr wir uns die Hervorbringung und Zuſammenſetzung gewiſſer Gedanken Arbeit koſten laſſen, deſto mehr ſind wir in Gefahr, die naͤchſten unmittelbarſten Verhaͤltniſſe der Begriffe zu uͤberſehen, und dafuͤr entferntere und weit her- geſuchte zu waͤhlen. Die einfaͤltige, nackende, einleuchtende Wahrheit, ſo wie ſie ſich dem bloß ruhigen Zuſchauer der Natur von ſelbſt darbietet, wird von dem zu geſchaͤftig ſuchenden Geiſte uͤber- gangen, und an ihre Stelle ſezt er eine Menge erkuͤnſtelter halb falſcher Saͤtze, denen er erſt durch den Ausdruck wieder einen Schein von Wahrheit und Aehnlichkeit mit der Sache ſelbſt geben muß.
Das, was wir Anſtrengung nennen, beſteht nicht ſowohl in einem gewiſſen Maaße der aufge-
J 3
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0139"n="133"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.</hi></fw><lb/>
geſammleten Begriffe haben immer mehr oder we-<lb/>
niger an dem Eindrucke gekuͤnſtelt, den die Sa-<lb/>
chen auf einen voͤllig noch uneingenommenen Geiſt<lb/>
machen wuͤrden. Selbſt das, was wir fuͤr reine<lb/>
lautere Beobachtung halten, iſt ſchon zum Theil<lb/>
aus unſerm uͤbrigen Gedankenſyſtem gefolgert. —<lb/>
Ueberdieß, je mehr wir uns die Hervorbringung<lb/>
und Zuſammenſetzung gewiſſer Gedanken Arbeit<lb/>
koſten laſſen, deſto mehr ſind wir in Gefahr, die<lb/>
naͤchſten unmittelbarſten Verhaͤltniſſe der Begriffe<lb/>
zu uͤberſehen, und dafuͤr entferntere und weit her-<lb/>
geſuchte zu waͤhlen. Die einfaͤltige, nackende,<lb/>
einleuchtende Wahrheit, ſo wie ſie ſich dem bloß<lb/>
ruhigen Zuſchauer der Natur von ſelbſt darbietet,<lb/>
wird von dem zu geſchaͤftig ſuchenden Geiſte uͤber-<lb/>
gangen, und an ihre Stelle ſezt er eine Menge<lb/>
erkuͤnſtelter halb falſcher Saͤtze, denen er erſt durch<lb/>
den Ausdruck wieder einen Schein von Wahrheit<lb/>
und Aehnlichkeit mit der Sache ſelbſt geben<lb/>
muß.</p><lb/><p>Das, was wir Anſtrengung nennen, beſteht<lb/>
nicht ſowohl in einem gewiſſen Maaße der aufge-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">J 3</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[133/0139]
der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
geſammleten Begriffe haben immer mehr oder we-
niger an dem Eindrucke gekuͤnſtelt, den die Sa-
chen auf einen voͤllig noch uneingenommenen Geiſt
machen wuͤrden. Selbſt das, was wir fuͤr reine
lautere Beobachtung halten, iſt ſchon zum Theil
aus unſerm uͤbrigen Gedankenſyſtem gefolgert. —
Ueberdieß, je mehr wir uns die Hervorbringung
und Zuſammenſetzung gewiſſer Gedanken Arbeit
koſten laſſen, deſto mehr ſind wir in Gefahr, die
naͤchſten unmittelbarſten Verhaͤltniſſe der Begriffe
zu uͤberſehen, und dafuͤr entferntere und weit her-
geſuchte zu waͤhlen. Die einfaͤltige, nackende,
einleuchtende Wahrheit, ſo wie ſie ſich dem bloß
ruhigen Zuſchauer der Natur von ſelbſt darbietet,
wird von dem zu geſchaͤftig ſuchenden Geiſte uͤber-
gangen, und an ihre Stelle ſezt er eine Menge
erkuͤnſtelter halb falſcher Saͤtze, denen er erſt durch
den Ausdruck wieder einen Schein von Wahrheit
und Aehnlichkeit mit der Sache ſelbſt geben
muß.
Das, was wir Anſtrengung nennen, beſteht
nicht ſowohl in einem gewiſſen Maaße der aufge-
J 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/139>, abgerufen am 17.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.