vortheilhaft oder nachtheilig gezeigt haben, son- dern nach dem Ganzen zu beurtheilen.
3) Dieß ist endlich noch ein großes Hinderniß bey dieser ganzen Untersuchung, daß wir eine lange Zeit, von uns selbst und andern, bloß nach der Größe unsers Gedächtnisses beurtheilt werden. Wie viel weißt du? ist immer die erste Frage, die man an ein Kind thut. Das heißt mit andern Worten so viel, als: was hast du behalten? und gemeiniglich verlangt man alsdann die Wiederho- lung der Gedanken, die man ihm selbst vorgesagt hat, und zwar auch gerade mit den Ausdrücken, in denen sie uns am deutlichsten scheinen. Und doch kann das Kind, welches bey einem solchen Verhör oft verstummt, und sehr fehlerhaft und zer- stückt das wieder erzählt, was es gehört hatte, ein weit fähigerer Kopf als das andre seyn, das alles auf das genaueste hersagt. Die wahre Untersu- chung des Vermögens zu denken ist, wenn man zwo Personen über eine Materie, über die sie gleich viel Erfahrung und Unterricht haben, ihre eignen Meynungen und Urtheile sagen oder aufschreiben
Ueber die Pruͤfung
vortheilhaft oder nachtheilig gezeigt haben, ſon- dern nach dem Ganzen zu beurtheilen.
3) Dieß iſt endlich noch ein großes Hinderniß bey dieſer ganzen Unterſuchung, daß wir eine lange Zeit, von uns ſelbſt und andern, bloß nach der Groͤße unſers Gedaͤchtniſſes beurtheilt werden. Wie viel weißt du? iſt immer die erſte Frage, die man an ein Kind thut. Das heißt mit andern Worten ſo viel, als: was haſt du behalten? und gemeiniglich verlangt man alsdann die Wiederho- lung der Gedanken, die man ihm ſelbſt vorgeſagt hat, und zwar auch gerade mit den Ausdruͤcken, in denen ſie uns am deutlichſten ſcheinen. Und doch kann das Kind, welches bey einem ſolchen Verhoͤr oft verſtummt, und ſehr fehlerhaft und zer- ſtuͤckt das wieder erzaͤhlt, was es gehoͤrt hatte, ein weit faͤhigerer Kopf als das andre ſeyn, das alles auf das genaueſte herſagt. Die wahre Unterſu- chung des Vermoͤgens zu denken iſt, wenn man zwo Perſonen uͤber eine Materie, uͤber die ſie gleich viel Erfahrung und Unterricht haben, ihre eignen Meynungen und Urtheile ſagen oder aufſchreiben
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Ueber die Pruͤfung
vortheilhaft oder nachtheilig gezeigt haben, ſon-
dern nach dem Ganzen zu beurtheilen.
3) Dieß iſt endlich noch ein großes Hinderniß
bey dieſer ganzen Unterſuchung, daß wir eine lange
Zeit, von uns ſelbſt und andern, bloß nach der
Groͤße unſers Gedaͤchtniſſes beurtheilt werden.
Wie viel weißt du? iſt immer die erſte Frage, die
man an ein Kind thut. Das heißt mit andern
Worten ſo viel, als: was haſt du behalten? und
gemeiniglich verlangt man alsdann die Wiederho-
lung der Gedanken, die man ihm ſelbſt vorgeſagt
hat, und zwar auch gerade mit den Ausdruͤcken,
in denen ſie uns am deutlichſten ſcheinen. Und
doch kann das Kind, welches bey einem ſolchen
Verhoͤr oft verſtummt, und ſehr fehlerhaft und zer-
ſtuͤckt das wieder erzaͤhlt, was es gehoͤrt hatte, ein
weit faͤhigerer Kopf als das andre ſeyn, das alles
auf das genaueſte herſagt. Die wahre Unterſu-
chung des Vermoͤgens zu denken iſt, wenn man
zwo Perſonen uͤber eine Materie, uͤber die ſie gleich
viel Erfahrung und Unterricht haben, ihre eignen
Meynungen und Urtheile ſagen oder aufſchreiben
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/120>, abgerufen am 23.11.2024.
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