Ich will dieses Ganze nur noch mit der Be- merkung einiger Hindernisse beschließen, die der Prüfung der Talente im Wege stehn.
1) Ein jeder Mensch kann größtentheils von den menschlichen Fähigkeiten nur nach seinen eige- nen urtheilen; und je eingeschränkter er selbst ist, desto weniger kann er höhere Vollkommenheiten begreifen. Daher kömmt es, daß, da das Maaß, welches er annimmt, schon zu klein ist, die Größe, welche er mißt, zu groß herauskömmt, und er also immer über seine Fähigkeit ein zu günstiges Urtheil spricht. Diese Bemerkung zeigt uns erstlich die Nothwendigkeit, über unser Genie andre urthei- len zu lassen, die selbst Genie haben. Zweytens giebt sie uns ein Merkmal, woran wir unser eige- nes prüfen können.
2) Jeder Mensch steht in gewissen Verbin- dungen, die seiner Eitelkeit entweder aufhelfen und sie unterstützen, oder in andern, die seine wirkliche Fähigkeit verkleinern und unterdrücken. Es ist nur gar zu gewiß, daß unsre eigne Ge- müthsart in die Beurtheilung unsrer selbst einen
Ueber die Pruͤfung
Ich will dieſes Ganze nur noch mit der Be- merkung einiger Hinderniſſe beſchließen, die der Pruͤfung der Talente im Wege ſtehn.
1) Ein jeder Menſch kann groͤßtentheils von den menſchlichen Faͤhigkeiten nur nach ſeinen eige- nen urtheilen; und je eingeſchraͤnkter er ſelbſt iſt, deſto weniger kann er hoͤhere Vollkommenheiten begreifen. Daher koͤmmt es, daß, da das Maaß, welches er annimmt, ſchon zu klein iſt, die Groͤße, welche er mißt, zu groß herauskoͤmmt, und er alſo immer uͤber ſeine Faͤhigkeit ein zu guͤnſtiges Urtheil ſpricht. Dieſe Bemerkung zeigt uns erſtlich die Nothwendigkeit, uͤber unſer Genie andre urthei- len zu laſſen, die ſelbſt Genie haben. Zweytens giebt ſie uns ein Merkmal, woran wir unſer eige- nes pruͤfen koͤnnen.
2) Jeder Menſch ſteht in gewiſſen Verbin- dungen, die ſeiner Eitelkeit entweder aufhelfen und ſie unterſtuͤtzen, oder in andern, die ſeine wirkliche Faͤhigkeit verkleinern und unterdruͤcken. Es iſt nur gar zu gewiß, daß unſre eigne Ge- muͤthsart in die Beurtheilung unſrer ſelbſt einen
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Ueber die Pruͤfung
Ich will dieſes Ganze nur noch mit der Be-
merkung einiger Hinderniſſe beſchließen, die der
Pruͤfung der Talente im Wege ſtehn.
1) Ein jeder Menſch kann groͤßtentheils von
den menſchlichen Faͤhigkeiten nur nach ſeinen eige-
nen urtheilen; und je eingeſchraͤnkter er ſelbſt iſt,
deſto weniger kann er hoͤhere Vollkommenheiten
begreifen. Daher koͤmmt es, daß, da das Maaß,
welches er annimmt, ſchon zu klein iſt, die Groͤße,
welche er mißt, zu groß herauskoͤmmt, und er alſo
immer uͤber ſeine Faͤhigkeit ein zu guͤnſtiges Urtheil
ſpricht. Dieſe Bemerkung zeigt uns erſtlich die
Nothwendigkeit, uͤber unſer Genie andre urthei-
len zu laſſen, die ſelbſt Genie haben. Zweytens
giebt ſie uns ein Merkmal, woran wir unſer eige-
nes pruͤfen koͤnnen.
2) Jeder Menſch ſteht in gewiſſen Verbin-
dungen, die ſeiner Eitelkeit entweder aufhelfen
und ſie unterſtuͤtzen, oder in andern, die ſeine
wirkliche Faͤhigkeit verkleinern und unterdruͤcken.
Es iſt nur gar zu gewiß, daß unſre eigne Ge-
muͤthsart in die Beurtheilung unſrer ſelbſt einen
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/118>, abgerufen am 27.11.2024.
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