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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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ist es auch merkwürdig, daß man ehemals auf die Ge-
stirne Engel setzte, um sie auf ihrer Bahne zu leiten;
daß ihnen Philo und Avizenna eine verständige Seele,
und der H. Thomas eine nur empfindende Seele zu-
schrieben. -- Was hat aber dann in jenen Menschen-
kindern, welche ohne Kopf, und in jenen, welche ohne
Gehirn und ohne Rückmark zur Welt kamen, wie
im Jahr 1768. in Wien eines noch einige Stunden
gelebt hat, den Theilen ihren Bau, ihre Ordnung und
ihre Mischung gegeben? Wie kann man den §. 217,
275, 276, 277, u. s. w. zufolge behaupten, daß sol-
che Kinder als Leibesfrüchte, ohne Gehirn, und folg-
lich ohne Seele, mittelst des Rückmarks leben konn-
ten? -- Wenn aber auch dieses fehlte, was mag wohl
dann die Ursache des Lebens gewesen seyn? Es ge-
schahen also Bewegungen, Nahrung, Absönderungen u.
s. w. ohne Seele neun Monate lang und einige Stun-
den -- Wer beweiset mir, daß dieses bey vollständige-
rer Organisation nicht mehrere Jahre geschehen könne?
Wenn dann die Geschäfte der Seele zufolge des §. 240
bey dennoch fortdaurendem Leben zerrüttet seyn können,
so ists ja offenbar, daß das Leben, und die thierischen
Verrichtungen nicht von der Seele abhängen. Es ist
auch noch keine Stelle im Gehirn bekannt, wo alle
Nerven zusammenfliessen, und die folglich ein schickli-
cher Aufenthalt für die Seele wäre. -- Mit was für
Recht man ein Wesen ohne Ausdehnung in einen Raum
einschränke, haben schon Viele so ziemlich befriedigend
dargethan.


5)

iſt es auch merkwuͤrdig, daß man ehemals auf die Ge-
ſtirne Engel ſetzte, um ſie auf ihrer Bahne zu leiten;
daß ihnen Philo und Avizenna eine verſtaͤndige Seele,
und der H. Thomas eine nur empfindende Seele zu-
ſchrieben. — Was hat aber dann in jenen Menſchen-
kindern, welche ohne Kopf, und in jenen, welche ohne
Gehirn und ohne Ruͤckmark zur Welt kamen, wie
im Jahr 1768. in Wien eines noch einige Stunden
gelebt hat, den Theilen ihren Bau, ihre Ordnung und
ihre Miſchung gegeben? Wie kann man den §. 217,
275, 276, 277, u. ſ. w. zufolge behaupten, daß ſol-
che Kinder als Leibesfruͤchte, ohne Gehirn, und folg-
lich ohne Seele, mittelſt des Ruͤckmarks leben konn-
ten? — Wenn aber auch dieſes fehlte, was mag wohl
dann die Urſache des Lebens geweſen ſeyn? Es ge-
ſchahen alſo Bewegungen, Nahrung, Abſoͤnderungen u.
ſ. w. ohne Seele neun Monate lang und einige Stun-
den — Wer beweiſet mir, daß dieſes bey vollſtaͤndige-
rer Organiſation nicht mehrere Jahre geſchehen koͤnne?
Wenn dann die Geſchaͤfte der Seele zufolge des §. 240
bey dennoch fortdaurendem Leben zerruͤttet ſeyn koͤnnen,
ſo iſts ja offenbar, daß das Leben, und die thieriſchen
Verrichtungen nicht von der Seele abhaͤngen. Es iſt
auch noch keine Stelle im Gehirn bekannt, wo alle
Nerven zuſammenflieſſen, und die folglich ein ſchickli-
cher Aufenthalt fuͤr die Seele waͤre. — Mit was fuͤr
Recht man ein Weſen ohne Ausdehnung in einen Raum
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dargethan.


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[24/0043] iſt es auch merkwuͤrdig, daß man ehemals auf die Ge- ſtirne Engel ſetzte, um ſie auf ihrer Bahne zu leiten; daß ihnen Philo und Avizenna eine verſtaͤndige Seele, und der H. Thomas eine nur empfindende Seele zu- ſchrieben. — Was hat aber dann in jenen Menſchen- kindern, welche ohne Kopf, und in jenen, welche ohne Gehirn und ohne Ruͤckmark zur Welt kamen, wie im Jahr 1768. in Wien eines noch einige Stunden gelebt hat, den Theilen ihren Bau, ihre Ordnung und ihre Miſchung gegeben? Wie kann man den §. 217, 275, 276, 277, u. ſ. w. zufolge behaupten, daß ſol- che Kinder als Leibesfruͤchte, ohne Gehirn, und folg- lich ohne Seele, mittelſt des Ruͤckmarks leben konn- ten? — Wenn aber auch dieſes fehlte, was mag wohl dann die Urſache des Lebens geweſen ſeyn? Es ge- ſchahen alſo Bewegungen, Nahrung, Abſoͤnderungen u. ſ. w. ohne Seele neun Monate lang und einige Stun- den — Wer beweiſet mir, daß dieſes bey vollſtaͤndige- rer Organiſation nicht mehrere Jahre geſchehen koͤnne? Wenn dann die Geſchaͤfte der Seele zufolge des §. 240 bey dennoch fortdaurendem Leben zerruͤttet ſeyn koͤnnen, ſo iſts ja offenbar, daß das Leben, und die thieriſchen Verrichtungen nicht von der Seele abhaͤngen. Es iſt auch noch keine Stelle im Gehirn bekannt, wo alle Nerven zuſammenflieſſen, und die folglich ein ſchickli- cher Aufenthalt fuͤr die Seele waͤre. — Mit was fuͤr Recht man ein Weſen ohne Ausdehnung in einen Raum einſchraͤnke, haben ſchon Viele ſo ziemlich befriedigend dargethan. 5)

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/43>, abgerufen am 24.11.2024.