wird man sagen. -- Man hat recht. -- Aber Erfah- rung kömmt dem Menschengeschlecht theuer zu stehen. Wer kann alles erfahren, oder was andere erfahren haben, wissen? Erfahren ist die gröste Kunst, das Meisterstück des menschlichen Verstandes; man kann fünfzig Jahre lang unendlich viel gesehen, geheilet und getödet haben, ohne daß man ein einzigmal gut beobachtet, und richtig erfahren hätte. Zu dem wird auch jungen Aerzten die Aufsicht über Leben und Tod anvertraut.
Ich glaube, der einfachste und zuverläßigste Weeg wäre, wenn wir die Triebfedern der Natur- kräfte des Menschen kennten; wenn wir mit den Be- dingnissen, mit den unentbehrlichen Erfodernissen ver- traut wären, ohne welche die Lebenskräfte nichts, mit welchen sie aber alles vermögen. -- -- -- Dann wird man sagen können: So lange die Grund- stützen der Natur unerschüttert sind; so lang ihre Triebfedern die gehörige Schnellkraft haben: So lan- ge wirkt sie thätig und heilsam; -- Aber sie leidet, und alles zielet zum Untergang, so bald diese angegriffen oder zerstöhrt sind.
Ich will es also versuchen, diese Grundstützen in den vielfältigen Naturerscheinungen des Menschen aufzusuchen. Um aber den Blick des Lesers auf einen bestimmten Gegenstand fest zu heften, will ich sie als ab- gezogne Erfahrungssätze voraus schicken, denen ich die Thatbe[w]eise, als eben so viele Quellen ihrer Ent- stehung, nachtragen werde.
Drit-
wird man ſagen. — Man hat recht. — Aber Erfah- rung koͤmmt dem Menſchengeſchlecht theuer zu ſtehen. Wer kann alles erfahren, oder was andere erfahren haben, wiſſen? Erfahren iſt die groͤſte Kunſt, das Meiſterſtuͤck des menſchlichen Verſtandes; man kann fuͤnfzig Jahre lang unendlich viel geſehen, geheilet und getoͤdet haben, ohne daß man ein einzigmal gut beobachtet, und richtig erfahren haͤtte. Zu dem wird auch jungen Aerzten die Aufſicht uͤber Leben und Tod anvertraut.
Ich glaube, der einfachſte und zuverlaͤßigſte Weeg waͤre, wenn wir die Triebfedern der Natur- kraͤfte des Menſchen kennten; wenn wir mit den Be- dingniſſen, mit den unentbehrlichen Erfoderniſſen ver- traut waͤren, ohne welche die Lebenskraͤfte nichts, mit welchen ſie aber alles vermoͤgen. — — — Dann wird man ſagen koͤnnen: So lange die Grund- ſtuͤtzen der Natur unerſchuͤttert ſind; ſo lang ihre Triebfedern die gehoͤrige Schnellkraft haben: So lan- ge wirkt ſie thaͤtig und heilſam; — Aber ſie leidet, und alles zielet zum Untergang, ſo bald dieſe angegriffen oder zerſtoͤhrt ſind.
Ich will es alſo verſuchen, dieſe Grundſtuͤtzen in den vielfaͤltigen Naturerſcheinungen des Menſchen aufzuſuchen. Um aber den Blick des Leſers auf einen beſtimmten Gegenſtand feſt zu heften, will ich ſie als ab- gezogne Erfahrungsſaͤtze voraus ſchicken, denen ich die Thatbe[w]eiſe, als eben ſo viele Quellen ihrer Ent- ſtehung, nachtragen werde.
Drit-
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wird man ſagen. — Man hat recht. — Aber Erfah-
rung koͤmmt dem Menſchengeſchlecht theuer zu ſtehen.
Wer kann alles erfahren, oder was andere erfahren
haben, wiſſen? Erfahren iſt die groͤſte Kunſt, das
Meiſterſtuͤck des menſchlichen Verſtandes; man kann
fuͤnfzig Jahre lang unendlich viel geſehen, geheilet
und getoͤdet haben, ohne daß man ein einzigmal gut
beobachtet, und richtig erfahren haͤtte. Zu dem wird
auch jungen Aerzten die Aufſicht uͤber Leben und Tod
anvertraut.
Ich glaube, der einfachſte und zuverlaͤßigſte
Weeg waͤre, wenn wir die Triebfedern der Natur-
kraͤfte des Menſchen kennten; wenn wir mit den Be-
dingniſſen, mit den unentbehrlichen Erfoderniſſen ver-
traut waͤren, ohne welche die Lebenskraͤfte nichts,
mit welchen ſie aber alles vermoͤgen. — — —
Dann wird man ſagen koͤnnen: So lange die Grund-
ſtuͤtzen der Natur unerſchuͤttert ſind; ſo lang ihre
Triebfedern die gehoͤrige Schnellkraft haben: So lan-
ge wirkt ſie thaͤtig und heilſam; — Aber ſie leidet, und
alles zielet zum Untergang, ſo bald dieſe angegriffen
oder zerſtoͤhrt ſind.
Ich will es alſo verſuchen, dieſe Grundſtuͤtzen
in den vielfaͤltigen Naturerſcheinungen des Menſchen
aufzuſuchen. Um aber den Blick des Leſers auf einen
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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/311>, abgerufen am 22.11.2024.
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