Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

sten Belehrungen. Eine Goldstickerin war ebenfalls
wahnsinnig: sprach man ihr aber von einer Weste, so
wuste sie genau die erforderliche Menge Goldes und
das Maaß des Zeuges zu bestimmen. "Herr L. lag an
einem Rieselfieber darnieder und hatte die Hirnwuth;
er war anhaltend verwirrt und hatte öftere Zuckun-
gen und Krämpfe. Da er sich ganz der Dichtkunst
widmete, und wirklich selbst ein guter Dichter war,
so kam er jedesmal zu sich, wenn einer von den Umste-
henden den Klopstock nannte, und blieb so lange voll-
kommen bey Sinnen, als man ihm von den Werken
dieses erhabnen Dichters sprach. Sobald man davon
aufhörte, war er wieder himmelweit verwirret; man
durfte aber nur wieder den nämlichen Gegenstand be-
rühren, um ihn jedesmal zu sich zu bringen.*)

Von entgegengesetzter Art sind die Verrückun-
gen, wo der Kranke von allen Dingen richtig urthei-
let, und nur in jenen Begriffen irrig ist, die ihn zu
sehr beschäftigt haben. Vielleicht sind in diesem Fal-
le gerade nur die bey diesen Vorstellungen in Thätig-
keit gesetzten Theile des Gehirns in einem zu reizba-
ren, oder zu sehr erschlafften Zustande. -- Und im
andern Falle ist die allgemeine Zerrüttung nicht mäch-
tig genug, um die schon so sehr geläufige und bestimm-
te Bewegung gewisser Theile zu hindern. Die meisten
Weltweisen finden zwar die Meinung lächerlich, daß
die verschiedenen Seelenfähigkeiten und Vorstellungen
i[n] verschiedenen Stellen des Gehirns ihren Sitz haben.

Wenn
*) Stoll Ratio Medendi Pars III p. 242.

ſten Belehrungen. Eine Goldſtickerin war ebenfalls
wahnſinnig: ſprach man ihr aber von einer Weſte, ſo
wuſte ſie genau die erforderliche Menge Goldes und
das Maaß des Zeuges zu beſtimmen. “Herr L. lag an
einem Rieſelfieber darnieder und hatte die Hirnwuth;
er war anhaltend verwirrt und hatte oͤftere Zuckun-
gen und Kraͤmpfe. Da er ſich ganz der Dichtkunſt
widmete, und wirklich ſelbſt ein guter Dichter war,
ſo kam er jedesmal zu ſich, wenn einer von den Umſte-
henden den Klopſtock nannte, und blieb ſo lange voll-
kommen bey Sinnen, als man ihm von den Werken
dieſes erhabnen Dichters ſprach. Sobald man davon
aufhoͤrte, war er wieder himmelweit verwirret; man
durfte aber nur wieder den naͤmlichen Gegenſtand be-
ruͤhren, um ihn jedesmal zu ſich zu bringen.*)

Von entgegengeſetzter Art ſind die Verruͤckun-
gen, wo der Kranke von allen Dingen richtig urthei-
let, und nur in jenen Begriffen irrig iſt, die ihn zu
ſehr beſchaͤftigt haben. Vielleicht ſind in dieſem Fal-
le gerade nur die bey dieſen Vorſtellungen in Thaͤtig-
keit geſetzten Theile des Gehirns in einem zu reizba-
ren, oder zu ſehr erſchlafften Zuſtande. — Und im
andern Falle iſt die allgemeine Zerruͤttung nicht maͤch-
tig genug, um die ſchon ſo ſehr gelaͤufige und beſtimm-
te Bewegung gewiſſer Theile zu hindern. Die meiſten
Weltweiſen finden zwar die Meinung laͤcherlich, daß
die verſchiedenen Seelenfaͤhigkeiten und Vorſtellungen
i[n] verſchiedenen Stellen des Gehirns ihren Sitz haben.

Wenn
*) Stoll Ratio Medendi Pars III p. 242.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0216" n="197"/>
&#x017F;ten Belehrungen. Eine Gold&#x017F;tickerin war ebenfalls<lb/>
wahn&#x017F;innig: &#x017F;prach man ihr aber von einer We&#x017F;te, &#x017F;o<lb/>
wu&#x017F;te &#x017F;ie genau die erforderliche Menge Goldes und<lb/>
das Maaß des Zeuges zu be&#x017F;timmen. &#x201C;Herr L. lag an<lb/>
einem Rie&#x017F;elfieber darnieder und hatte die Hirnwuth;<lb/>
er war anhaltend verwirrt und hatte o&#x0364;ftere Zuckun-<lb/>
gen und Kra&#x0364;mpfe. Da er &#x017F;ich ganz der Dichtkun&#x017F;t<lb/>
widmete, und wirklich &#x017F;elb&#x017F;t ein guter Dichter war,<lb/>
&#x017F;o kam er jedesmal zu &#x017F;ich, wenn einer von den Um&#x017F;te-<lb/>
henden den Klop&#x017F;tock nannte, und blieb &#x017F;o lange voll-<lb/>
kommen bey Sinnen, als man ihm von den Werken<lb/>
die&#x017F;es erhabnen Dichters &#x017F;prach. Sobald man davon<lb/>
aufho&#x0364;rte, war er wieder himmelweit verwirret; man<lb/>
durfte aber nur wieder den na&#x0364;mlichen Gegen&#x017F;tand be-<lb/>
ru&#x0364;hren, um ihn jedesmal zu &#x017F;ich zu bringen.<note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq">Stoll Ratio Medendi Pars III p. 242.</hi></note></p><lb/>
            <p>Von entgegenge&#x017F;etzter Art &#x017F;ind die Verru&#x0364;ckun-<lb/>
gen, wo der Kranke von allen Dingen richtig urthei-<lb/>
let, und nur in jenen Begriffen irrig i&#x017F;t, die ihn zu<lb/>
&#x017F;ehr be&#x017F;cha&#x0364;ftigt haben. Vielleicht &#x017F;ind in die&#x017F;em Fal-<lb/>
le gerade nur die bey die&#x017F;en Vor&#x017F;tellungen in Tha&#x0364;tig-<lb/>
keit ge&#x017F;etzten Theile des Gehirns in einem zu reizba-<lb/>
ren, oder zu &#x017F;ehr er&#x017F;chlafften Zu&#x017F;tande. &#x2014; Und im<lb/>
andern Falle i&#x017F;t die allgemeine Zerru&#x0364;ttung nicht ma&#x0364;ch-<lb/>
tig genug, um die &#x017F;chon &#x017F;o &#x017F;ehr gela&#x0364;ufige und be&#x017F;timm-<lb/>
te Bewegung gewi&#x017F;&#x017F;er Theile zu hindern. Die mei&#x017F;ten<lb/>
Weltwei&#x017F;en finden zwar die Meinung la&#x0364;cherlich, daß<lb/>
die ver&#x017F;chiedenen Seelenfa&#x0364;higkeiten und Vor&#x017F;tellungen<lb/>
i<supplied>n</supplied> ver&#x017F;chiedenen Stellen des Gehirns ihren Sitz haben.<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Wenn</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[197/0216] ſten Belehrungen. Eine Goldſtickerin war ebenfalls wahnſinnig: ſprach man ihr aber von einer Weſte, ſo wuſte ſie genau die erforderliche Menge Goldes und das Maaß des Zeuges zu beſtimmen. “Herr L. lag an einem Rieſelfieber darnieder und hatte die Hirnwuth; er war anhaltend verwirrt und hatte oͤftere Zuckun- gen und Kraͤmpfe. Da er ſich ganz der Dichtkunſt widmete, und wirklich ſelbſt ein guter Dichter war, ſo kam er jedesmal zu ſich, wenn einer von den Umſte- henden den Klopſtock nannte, und blieb ſo lange voll- kommen bey Sinnen, als man ihm von den Werken dieſes erhabnen Dichters ſprach. Sobald man davon aufhoͤrte, war er wieder himmelweit verwirret; man durfte aber nur wieder den naͤmlichen Gegenſtand be- ruͤhren, um ihn jedesmal zu ſich zu bringen. *) Von entgegengeſetzter Art ſind die Verruͤckun- gen, wo der Kranke von allen Dingen richtig urthei- let, und nur in jenen Begriffen irrig iſt, die ihn zu ſehr beſchaͤftigt haben. Vielleicht ſind in dieſem Fal- le gerade nur die bey dieſen Vorſtellungen in Thaͤtig- keit geſetzten Theile des Gehirns in einem zu reizba- ren, oder zu ſehr erſchlafften Zuſtande. — Und im andern Falle iſt die allgemeine Zerruͤttung nicht maͤch- tig genug, um die ſchon ſo ſehr gelaͤufige und beſtimm- te Bewegung gewiſſer Theile zu hindern. Die meiſten Weltweiſen finden zwar die Meinung laͤcherlich, daß die verſchiedenen Seelenfaͤhigkeiten und Vorſtellungen in verſchiedenen Stellen des Gehirns ihren Sitz haben. Wenn *) Stoll Ratio Medendi Pars III p. 242.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der erste Band von Franz Joseph Galls "Philosophi… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/216
Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/216>, abgerufen am 04.05.2024.