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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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die Seele entwichen. Man muß freylich nicht al-
lemal eine sichtbare Zerstörung verlangen. Daher
glaubte Reimarus, daß das Leben der Thiere erst
mit der Empfindung anfange. "Das Athmen, sagt
er, das Schlagen des Herzens, der Umlauf des Ge-
blüts, die Verdauung, die Absönderung der Säfte,
und überhaupt alle Handlungen, welche man Lebens-
handlungen nennt, sind nicht so anzusehen, als ob in
ihnen an sich das Leben bestünde, sondern nur als sol-
che, die das thierische Leben und die Seelenverrichtun-
gen unterstüzen. Sie dienen dem Leben so, wie die
Knochen dem Leibe, ohne welche die Nerven, Mus-
keln, Fleisch, Adern, Gefäße und Glieder keinen
Anhalt und Schutz hätten, noch ihr Amt verrichten
könnten. Da geht aber erst unser Leib, da geht al-
so auch das Leben eigentlich an, wo die Empfindung
anfängt, wo wir anfangen zu fühlen, und uns we-
nigstens dunkel und undeutlich bewust zu werden. Aber
wir würden nicht leben, noch durch unsere Werkzeuge
der Sinne etwas empfinden können, wenn das me-
chanische Getriebe nicht den Grund dazu legte, und
stets in vollem Gang wäre." -- Folgende Erfah-
rungen bestättigen alles dieses noch mehr.

-- Unzer erzählt, daß ein zerschnittener Ohr-
wurm mit dem Obertheile das untere Theil meistens
aufgefressen habe; Beverley, daß der abgehauene
Kopf einer Klapperschlange, woran nur ein Daumen-
breit vom Nacken saß, nicht allein zu beißen suchte,
da ihm das Maul aufgebrochen war, sondern auch
seine beweglichen Zähne aufrichtete und Gift hervor-

sprützte.

die Seele entwichen. Man muß freylich nicht al-
lemal eine ſichtbare Zerſtoͤrung verlangen. Daher
glaubte Reimarus, daß das Leben der Thiere erſt
mit der Empfindung anfange. “Das Athmen, ſagt
er, das Schlagen des Herzens, der Umlauf des Ge-
bluͤts, die Verdauung, die Abſoͤnderung der Saͤfte,
und uͤberhaupt alle Handlungen, welche man Lebens-
handlungen nennt, ſind nicht ſo anzuſehen, als ob in
ihnen an ſich das Leben beſtuͤnde, ſondern nur als ſol-
che, die das thieriſche Leben und die Seelenverrichtun-
gen unterſtuͤzen. Sie dienen dem Leben ſo, wie die
Knochen dem Leibe, ohne welche die Nerven, Mus-
keln, Fleiſch, Adern, Gefaͤße und Glieder keinen
Anhalt und Schutz haͤtten, noch ihr Amt verrichten
koͤnnten. Da geht aber erſt unſer Leib, da geht al-
ſo auch das Leben eigentlich an, wo die Empfindung
anfaͤngt, wo wir anfangen zu fuͤhlen, und uns we-
nigſtens dunkel und undeutlich bewuſt zu werden. Aber
wir wuͤrden nicht leben, noch durch unſere Werkzeuge
der Sinne etwas empfinden koͤnnen, wenn das me-
chaniſche Getriebe nicht den Grund dazu legte, und
ſtets in vollem Gang waͤre.„ — Folgende Erfah-
rungen beſtaͤttigen alles dieſes noch mehr.

Unzer erzaͤhlt, daß ein zerſchnittener Ohr-
wurm mit dem Obertheile das untere Theil meiſtens
aufgefreſſen habe; Beverley, daß der abgehauene
Kopf einer Klapperſchlange, woran nur ein Daumen-
breit vom Nacken ſaß, nicht allein zu beißen ſuchte,
da ihm das Maul aufgebrochen war, ſondern auch
ſeine beweglichen Zaͤhne aufrichtete und Gift hervor-

ſpruͤtzte.
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[171/0190] die Seele entwichen. Man muß freylich nicht al- lemal eine ſichtbare Zerſtoͤrung verlangen. Daher glaubte Reimarus, daß das Leben der Thiere erſt mit der Empfindung anfange. “Das Athmen, ſagt er, das Schlagen des Herzens, der Umlauf des Ge- bluͤts, die Verdauung, die Abſoͤnderung der Saͤfte, und uͤberhaupt alle Handlungen, welche man Lebens- handlungen nennt, ſind nicht ſo anzuſehen, als ob in ihnen an ſich das Leben beſtuͤnde, ſondern nur als ſol- che, die das thieriſche Leben und die Seelenverrichtun- gen unterſtuͤzen. Sie dienen dem Leben ſo, wie die Knochen dem Leibe, ohne welche die Nerven, Mus- keln, Fleiſch, Adern, Gefaͤße und Glieder keinen Anhalt und Schutz haͤtten, noch ihr Amt verrichten koͤnnten. Da geht aber erſt unſer Leib, da geht al- ſo auch das Leben eigentlich an, wo die Empfindung anfaͤngt, wo wir anfangen zu fuͤhlen, und uns we- nigſtens dunkel und undeutlich bewuſt zu werden. Aber wir wuͤrden nicht leben, noch durch unſere Werkzeuge der Sinne etwas empfinden koͤnnen, wenn das me- chaniſche Getriebe nicht den Grund dazu legte, und ſtets in vollem Gang waͤre.„ — Folgende Erfah- rungen beſtaͤttigen alles dieſes noch mehr. — Unzer erzaͤhlt, daß ein zerſchnittener Ohr- wurm mit dem Obertheile das untere Theil meiſtens aufgefreſſen habe; Beverley, daß der abgehauene Kopf einer Klapperſchlange, woran nur ein Daumen- breit vom Nacken ſaß, nicht allein zu beißen ſuchte, da ihm das Maul aufgebrochen war, ſondern auch ſeine beweglichen Zaͤhne aufrichtete und Gift hervor- ſpruͤtzte.

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/190>, abgerufen am 30.04.2024.