Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

weh, wenn wir gähling aus dem einen in das andere
übergehen. Und wenn denn die Seele beym Sehen
so künstlich ist, waram halten wir so oft eine Fliege,
die eine Spanne vor unserm Auge schwebt, für einen
grossen hoch in den Lüften schwebenden Vogel? Wa-
rum sehen wir so viele Dinge, Feuer, schwarze Fle-
cken u. d. gl. die gar nicht außer dem Auge sind? --
Der körperliche Sinn lehret nichts, aber daß sich
deßwegen das Bild den ersten Tag aufs Auge mahle
wie es sich den letzten des Lebens darauf mahlen wird,
ist nicht glaubbar, und widerspricht allen bekannten
Gesetzen der Physik und der Physiologie. Der Ab-
druck, die Strahlenbrechung können in einem matten
trüben, gebrochenen Auge, dessen Säfte noch nicht
gehörig abgeschieden, gleichsam noch zusammengeflos-
sen sind, wie das Auge des Kindes und des jungen
Hundes beschaffen ist, unmöglich so deutlich, lebhaft
und zusammenstimmend seyn, als in einem gutausge-
zeichneten, durchscheinenden, feuervollen und mit ge-
höriger Reizbarkeit versehenen Auge, wie z. B. das
Auge der Gazelle, des Falken und eines schon entwi-
ckelten Menschen ist. Ich will nichts von der gehöri-
gen Festigkeit der Nerven eines jedweden Sinnes, und
des Gehirnes sagen, bey deren Fehler die geübteste
Seele augenblicklich ihre feine Mechanik und Meß-
kunst in eine Chimäre verwandelt sieht.




§. 32.

weh, wenn wir gaͤhling aus dem einen in das andere
uͤbergehen. Und wenn denn die Seele beym Sehen
ſo kuͤnſtlich iſt, waram halten wir ſo oft eine Fliege,
die eine Spanne vor unſerm Auge ſchwebt, fuͤr einen
groſſen hoch in den Luͤften ſchwebenden Vogel? Wa-
rum ſehen wir ſo viele Dinge, Feuer, ſchwarze Fle-
cken u. d. gl. die gar nicht außer dem Auge ſind? —
Der koͤrperliche Sinn lehret nichts, aber daß ſich
deßwegen das Bild den erſten Tag aufs Auge mahle
wie es ſich den letzten des Lebens darauf mahlen wird,
iſt nicht glaubbar, und widerſpricht allen bekannten
Geſetzen der Phyſik und der Phyſiologie. Der Ab-
druck, die Strahlenbrechung koͤnnen in einem matten
truͤben, gebrochenen Auge, deſſen Saͤfte noch nicht
gehoͤrig abgeſchieden, gleichſam noch zuſammengefloſ-
ſen ſind, wie das Auge des Kindes und des jungen
Hundes beſchaffen iſt, unmoͤglich ſo deutlich, lebhaft
und zuſammenſtimmend ſeyn, als in einem gutausge-
zeichneten, durchſcheinenden, feuervollen und mit ge-
hoͤriger Reizbarkeit verſehenen Auge, wie z. B. das
Auge der Gazelle, des Falken und eines ſchon entwi-
ckelten Menſchen iſt. Ich will nichts von der gehoͤri-
gen Feſtigkeit der Nerven eines jedweden Sinnes, und
des Gehirnes ſagen, bey deren Fehler die geuͤbteſte
Seele augenblicklich ihre feine Mechanik und Meß-
kunſt in eine Chimaͤre verwandelt ſieht.




§. 32.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0146" n="127"/>
weh, wenn wir ga&#x0364;hling aus dem einen in das andere<lb/>
u&#x0364;bergehen. Und wenn denn die Seele beym Sehen<lb/>
&#x017F;o ku&#x0364;n&#x017F;tlich i&#x017F;t, waram halten wir &#x017F;o oft eine Fliege,<lb/>
die eine Spanne vor un&#x017F;erm Auge &#x017F;chwebt, fu&#x0364;r einen<lb/>
gro&#x017F;&#x017F;en hoch in den Lu&#x0364;ften &#x017F;chwebenden Vogel? Wa-<lb/>
rum &#x017F;ehen wir &#x017F;o viele Dinge, Feuer, &#x017F;chwarze Fle-<lb/>
cken u. d. gl. die gar nicht außer dem Auge &#x017F;ind? &#x2014;<lb/>
Der ko&#x0364;rperliche Sinn lehret nichts, aber daß &#x017F;ich<lb/>
deßwegen das Bild den er&#x017F;ten Tag aufs Auge mahle<lb/>
wie es &#x017F;ich den letzten des Lebens darauf mahlen wird,<lb/>
i&#x017F;t nicht glaubbar, und wider&#x017F;pricht allen bekannten<lb/>
Ge&#x017F;etzen der Phy&#x017F;ik und der Phy&#x017F;iologie. Der Ab-<lb/>
druck, die Strahlenbrechung ko&#x0364;nnen in einem matten<lb/>
tru&#x0364;ben, gebrochenen Auge, de&#x017F;&#x017F;en Sa&#x0364;fte noch nicht<lb/>
geho&#x0364;rig abge&#x017F;chieden, gleich&#x017F;am noch zu&#x017F;ammengeflo&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en &#x017F;ind, wie das Auge des Kindes und des jungen<lb/>
Hundes be&#x017F;chaffen i&#x017F;t, unmo&#x0364;glich &#x017F;o deutlich, lebhaft<lb/>
und zu&#x017F;ammen&#x017F;timmend &#x017F;eyn, als in einem gutausge-<lb/>
zeichneten, durch&#x017F;cheinenden, feuervollen und mit ge-<lb/>
ho&#x0364;riger Reizbarkeit ver&#x017F;ehenen Auge, wie z. B. das<lb/>
Auge der Gazelle, des Falken und eines &#x017F;chon entwi-<lb/>
ckelten Men&#x017F;chen i&#x017F;t. Ich will nichts von der geho&#x0364;ri-<lb/>
gen Fe&#x017F;tigkeit der Nerven eines jedweden Sinnes, und<lb/>
des Gehirnes &#x017F;agen, bey deren Fehler die geu&#x0364;bte&#x017F;te<lb/>
Seele augenblicklich ihre feine Mechanik und Meß-<lb/>
kun&#x017F;t in eine Chima&#x0364;re verwandelt &#x017F;ieht.</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <fw place="bottom" type="catch">§. 32.</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[127/0146] weh, wenn wir gaͤhling aus dem einen in das andere uͤbergehen. Und wenn denn die Seele beym Sehen ſo kuͤnſtlich iſt, waram halten wir ſo oft eine Fliege, die eine Spanne vor unſerm Auge ſchwebt, fuͤr einen groſſen hoch in den Luͤften ſchwebenden Vogel? Wa- rum ſehen wir ſo viele Dinge, Feuer, ſchwarze Fle- cken u. d. gl. die gar nicht außer dem Auge ſind? — Der koͤrperliche Sinn lehret nichts, aber daß ſich deßwegen das Bild den erſten Tag aufs Auge mahle wie es ſich den letzten des Lebens darauf mahlen wird, iſt nicht glaubbar, und widerſpricht allen bekannten Geſetzen der Phyſik und der Phyſiologie. Der Ab- druck, die Strahlenbrechung koͤnnen in einem matten truͤben, gebrochenen Auge, deſſen Saͤfte noch nicht gehoͤrig abgeſchieden, gleichſam noch zuſammengefloſ- ſen ſind, wie das Auge des Kindes und des jungen Hundes beſchaffen iſt, unmoͤglich ſo deutlich, lebhaft und zuſammenſtimmend ſeyn, als in einem gutausge- zeichneten, durchſcheinenden, feuervollen und mit ge- hoͤriger Reizbarkeit verſehenen Auge, wie z. B. das Auge der Gazelle, des Falken und eines ſchon entwi- ckelten Menſchen iſt. Ich will nichts von der gehoͤri- gen Feſtigkeit der Nerven eines jedweden Sinnes, und des Gehirnes ſagen, bey deren Fehler die geuͤbteſte Seele augenblicklich ihre feine Mechanik und Meß- kunſt in eine Chimaͤre verwandelt ſieht. §. 32.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der erste Band von Franz Joseph Galls "Philosophi… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/146
Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/146>, abgerufen am 03.05.2024.