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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

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weniger verabscheuet, und geneset. Der Hund, der
Affe, das Pferd fühlen, wie weit sie den Sprung
wagen dürfen; eben so fühlt der Seiltänzer genau,
daß er jezt ein gewisses Ziel nicht erreichen, einen ge-
wissen Schwung nicht zu Stande bringen wird, ob-
schon er zu einer andern Zeit, auch durch das Vor-
gefühl versichert, beydes sehr leicht ins Werk setzt.
So fühlt man in einer Ferne von zehn und mehreren
Schritten, daß man einen bestimmten Gegenstand mit
dem rechten Fuße z. B. betreten werde, obschon man
weder seinen Gang geflißentlich darnach einrichtet, noch
zuvor die Entfernung mit Aufmerksamkeit überschaut
hat. -- So wie sich die auf den Rücken gelegte
Schildkröte wieder auf den Bauch zu bringen bemüht,
so verändert der Mensch und jedes Thier seine Stel-
lung, wenn sie ihnen beschwerlich zu werden anfängt,
und jedes bedient sich dazu seiner verliehenen Werkzeu-
ge. Der Henne schreibt Seneca zu viel Kenntniß
von ihrem Feinde zu; er muß nicht gewußt haben,
wie unsere Vogelsteller die Drosseln und Krammets-
vögel mittelst eines mit Schwungfedern besteckten, und
aus einer Hütte über sie weggeschossenen Pfeiles von
dem Baume auf die Erde hinabstürzen machen. Als
Student hatte ich mir einen Staaren so abgerichtet,
daß ich ihn auf freyem Felde seiner Willkühr überlas-
sen konnte. Anfänglich hatte er eine grosse Furcht
vor Raben und Dohlen; so oft ein solcher ober ihm
wegflog, steckte er den Kopf entweder unter einen Erd-
schollen oder ins Gras, und reckte den Schwanz ge-
rade in die Höhe; bald aber hatte er sich an diesen

Um-
Galls I. Baud. G

weniger verabſcheuet, und geneſet. Der Hund, der
Affe, das Pferd fuͤhlen, wie weit ſie den Sprung
wagen duͤrfen; eben ſo fuͤhlt der Seiltaͤnzer genau,
daß er jezt ein gewiſſes Ziel nicht erreichen, einen ge-
wiſſen Schwung nicht zu Stande bringen wird, ob-
ſchon er zu einer andern Zeit, auch durch das Vor-
gefuͤhl verſichert, beydes ſehr leicht ins Werk ſetzt.
So fuͤhlt man in einer Ferne von zehn und mehreren
Schritten, daß man einen beſtimmten Gegenſtand mit
dem rechten Fuße z. B. betreten werde, obſchon man
weder ſeinen Gang geflißentlich darnach einrichtet, noch
zuvor die Entfernung mit Aufmerkſamkeit uͤberſchaut
hat. — So wie ſich die auf den Ruͤcken gelegte
Schildkroͤte wieder auf den Bauch zu bringen bemuͤht,
ſo veraͤndert der Menſch und jedes Thier ſeine Stel-
lung, wenn ſie ihnen beſchwerlich zu werden anfaͤngt,
und jedes bedient ſich dazu ſeiner verliehenen Werkzeu-
ge. Der Henne ſchreibt Seneca zu viel Kenntniß
von ihrem Feinde zu; er muß nicht gewußt haben,
wie unſere Vogelſteller die Droſſeln und Krammets-
voͤgel mittelſt eines mit Schwungfedern beſteckten, und
aus einer Huͤtte uͤber ſie weggeſchoſſenen Pfeiles von
dem Baume auf die Erde hinabſtuͤrzen machen. Als
Student hatte ich mir einen Staaren ſo abgerichtet,
daß ich ihn auf freyem Felde ſeiner Willkuͤhr uͤberlaſ-
ſen konnte. Anfaͤnglich hatte er eine groſſe Furcht
vor Raben und Dohlen; ſo oft ein ſolcher ober ihm
wegflog, ſteckte er den Kopf entweder unter einen Erd-
ſchollen oder ins Gras, und reckte den Schwanz ge-
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Um-
Galls I. Baud. G
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[97/0116] weniger verabſcheuet, und geneſet. Der Hund, der Affe, das Pferd fuͤhlen, wie weit ſie den Sprung wagen duͤrfen; eben ſo fuͤhlt der Seiltaͤnzer genau, daß er jezt ein gewiſſes Ziel nicht erreichen, einen ge- wiſſen Schwung nicht zu Stande bringen wird, ob- ſchon er zu einer andern Zeit, auch durch das Vor- gefuͤhl verſichert, beydes ſehr leicht ins Werk ſetzt. So fuͤhlt man in einer Ferne von zehn und mehreren Schritten, daß man einen beſtimmten Gegenſtand mit dem rechten Fuße z. B. betreten werde, obſchon man weder ſeinen Gang geflißentlich darnach einrichtet, noch zuvor die Entfernung mit Aufmerkſamkeit uͤberſchaut hat. — So wie ſich die auf den Ruͤcken gelegte Schildkroͤte wieder auf den Bauch zu bringen bemuͤht, ſo veraͤndert der Menſch und jedes Thier ſeine Stel- lung, wenn ſie ihnen beſchwerlich zu werden anfaͤngt, und jedes bedient ſich dazu ſeiner verliehenen Werkzeu- ge. Der Henne ſchreibt Seneca zu viel Kenntniß von ihrem Feinde zu; er muß nicht gewußt haben, wie unſere Vogelſteller die Droſſeln und Krammets- voͤgel mittelſt eines mit Schwungfedern beſteckten, und aus einer Huͤtte uͤber ſie weggeſchoſſenen Pfeiles von dem Baume auf die Erde hinabſtuͤrzen machen. Als Student hatte ich mir einen Staaren ſo abgerichtet, daß ich ihn auf freyem Felde ſeiner Willkuͤhr uͤberlaſ- ſen konnte. Anfaͤnglich hatte er eine groſſe Furcht vor Raben und Dohlen; ſo oft ein ſolcher ober ihm wegflog, ſteckte er den Kopf entweder unter einen Erd- ſchollen oder ins Gras, und reckte den Schwanz ge- rade in die Hoͤhe; bald aber hatte er ſich an dieſen Um- Galls I. Baud. G

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Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/116>, abgerufen am 22.11.2024.