Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.haben Alles besprochen, obgleich ich erst die Klage in einem halben Jahre eingeben kann, weil eher nicht der Kündigungstermin einfällt. Ich mag nicht sein Pachter mehr sein, wenn ich ihn einmal eingeklagt habe. Darum Geduld bis dahin. Ein halbes Jahr sollte ich noch ohne mein Kind sein? Geh und hole dir es früher! Am andern Morgen kleidete sich Therese noch sorgfältiger als gewöhnlich, befahl dem Knecht ein Pferd vor den kleinen Korbwagen zu spannen und sie nach dem Schlosse zu fahren. Es war schon beinahe Mittag, als sie dort ankam, und der Rentmeister, vor dessen Thüre sie abstieg, bemerkte zu seinem Bedauern, wie bleich und mager die hübsche blühende Frau seit wenigen Wochen geworden -- die Ursache errieth er nur zu gut, aber er wagte nicht, mit ihr darüber zu sprechen, und sie sagte auch Nichts, sondern bat ihn nur, sie bei dem Grafen zu melden, den sie in wichtiger Angelegenheit allein zu sprechen wünsche. Es dauerte eine volle Viertelstunde, ehe der Rentmeister wieder kam, um sie schweigend hinüber ins Schloß und bis an des Grafen Cabinet zu geleiten, das der Graf, sobald sie eingetreten war, abschloß. Er war nicht allein, neben ihm stand ein hoher Mann in geistlicher Tracht, ein Oheim der Gräfin Agnes. haben Alles besprochen, obgleich ich erst die Klage in einem halben Jahre eingeben kann, weil eher nicht der Kündigungstermin einfällt. Ich mag nicht sein Pachter mehr sein, wenn ich ihn einmal eingeklagt habe. Darum Geduld bis dahin. Ein halbes Jahr sollte ich noch ohne mein Kind sein? Geh und hole dir es früher! Am andern Morgen kleidete sich Therese noch sorgfältiger als gewöhnlich, befahl dem Knecht ein Pferd vor den kleinen Korbwagen zu spannen und sie nach dem Schlosse zu fahren. Es war schon beinahe Mittag, als sie dort ankam, und der Rentmeister, vor dessen Thüre sie abstieg, bemerkte zu seinem Bedauern, wie bleich und mager die hübsche blühende Frau seit wenigen Wochen geworden — die Ursache errieth er nur zu gut, aber er wagte nicht, mit ihr darüber zu sprechen, und sie sagte auch Nichts, sondern bat ihn nur, sie bei dem Grafen zu melden, den sie in wichtiger Angelegenheit allein zu sprechen wünsche. Es dauerte eine volle Viertelstunde, ehe der Rentmeister wieder kam, um sie schweigend hinüber ins Schloß und bis an des Grafen Cabinet zu geleiten, das der Graf, sobald sie eingetreten war, abschloß. Er war nicht allein, neben ihm stand ein hoher Mann in geistlicher Tracht, ein Oheim der Gräfin Agnes. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <p><pb facs="#f0046"/> haben Alles besprochen, obgleich ich erst die Klage in einem halben Jahre eingeben kann, weil eher nicht der Kündigungstermin einfällt. Ich mag nicht sein Pachter mehr sein, wenn ich ihn einmal eingeklagt habe. Darum Geduld bis dahin.</p><lb/> <p>Ein halbes Jahr sollte ich noch ohne mein Kind sein?</p><lb/> <p>Geh und hole dir es früher!</p><lb/> <p>Am andern Morgen kleidete sich Therese noch sorgfältiger als gewöhnlich, befahl dem Knecht ein Pferd vor den kleinen Korbwagen zu spannen und sie nach dem Schlosse zu fahren.</p><lb/> <p>Es war schon beinahe Mittag, als sie dort ankam, und der Rentmeister, vor dessen Thüre sie abstieg, bemerkte zu seinem Bedauern, wie bleich und mager die hübsche blühende Frau seit wenigen Wochen geworden — die Ursache errieth er nur zu gut, aber er wagte nicht, mit ihr darüber zu sprechen, und sie sagte auch Nichts, sondern bat ihn nur, sie bei dem Grafen zu melden, den sie in wichtiger Angelegenheit allein zu sprechen wünsche.</p><lb/> <p>Es dauerte eine volle Viertelstunde, ehe der Rentmeister wieder kam, um sie schweigend hinüber ins Schloß und bis an des Grafen Cabinet zu geleiten, das der Graf, sobald sie eingetreten war, abschloß.</p><lb/> <p>Er war nicht allein, neben ihm stand ein hoher Mann in geistlicher Tracht, ein Oheim der Gräfin Agnes.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0046]
haben Alles besprochen, obgleich ich erst die Klage in einem halben Jahre eingeben kann, weil eher nicht der Kündigungstermin einfällt. Ich mag nicht sein Pachter mehr sein, wenn ich ihn einmal eingeklagt habe. Darum Geduld bis dahin.
Ein halbes Jahr sollte ich noch ohne mein Kind sein?
Geh und hole dir es früher!
Am andern Morgen kleidete sich Therese noch sorgfältiger als gewöhnlich, befahl dem Knecht ein Pferd vor den kleinen Korbwagen zu spannen und sie nach dem Schlosse zu fahren.
Es war schon beinahe Mittag, als sie dort ankam, und der Rentmeister, vor dessen Thüre sie abstieg, bemerkte zu seinem Bedauern, wie bleich und mager die hübsche blühende Frau seit wenigen Wochen geworden — die Ursache errieth er nur zu gut, aber er wagte nicht, mit ihr darüber zu sprechen, und sie sagte auch Nichts, sondern bat ihn nur, sie bei dem Grafen zu melden, den sie in wichtiger Angelegenheit allein zu sprechen wünsche.
Es dauerte eine volle Viertelstunde, ehe der Rentmeister wieder kam, um sie schweigend hinüber ins Schloß und bis an des Grafen Cabinet zu geleiten, das der Graf, sobald sie eingetreten war, abschloß.
Er war nicht allein, neben ihm stand ein hoher Mann in geistlicher Tracht, ein Oheim der Gräfin Agnes.
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/46>, abgerufen am 27.07.2024. |