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Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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war das Gefühl, das sie für ihren Gemahl hegte, sehr ähnlich, und kein anderer Mann hatte je selbst nur ihre Phantasie in Anspruch genommen. Wie ruhig sie ihm sich geschenkt, hatte Clemens auch wohl bemerkt, und vielleicht, bei seinem hauptsächlich in Widersprüchen wurzelnden Charakter, hatte gerade dies ein lebhaftes Gefühl für sie in ihm erweckt. Ebenso klar sah er auch, daß die Liebe zu ihrem Kinde den Stempel des Leidenschaftlichen trug, sah wohl, wie jeden Morgen beim ersten Anblick des kleinen Bernhard die bleichen Wangen seiner Frau sich hoch rötheten und ihre matten Augen erglänzten, sah wohl, daß dies Kind allein den Schlüssel zu ihrem innersten Herzen besitze und der ganze Reiz ihres Lebens geworden. Darum glaubte er auch, und Jeder, der Gräfin Agnes kannte, mußte es mit ihm glauben, sie werde den Tod dieses vergötterten Kindes mit dem Leben oder mit ihrer Vernunft bezahlen.

Der Graf war im scharfen Trabe wohl eine halbe Meile geritten, als aufwirbelnder Staub ihm die Nähe eines Wagens verkündete. Er hielt die Zügel seines Pferdes an, um genauer zu sehen, und als er mit der Hand die Augen beschattete, dünkte es ihm wirklich, als wehe der bekannte blaue Reiseschleier seiner Frau aus dem entgegenkommenden Wagen auf.

Als er sie mit Gewißheit erkannte, schnürte sich seine Brust auf eine Weise zusammen, daß er nicht mehr Athem holen konnte. Wenn sie nun den Betrug

war das Gefühl, das sie für ihren Gemahl hegte, sehr ähnlich, und kein anderer Mann hatte je selbst nur ihre Phantasie in Anspruch genommen. Wie ruhig sie ihm sich geschenkt, hatte Clemens auch wohl bemerkt, und vielleicht, bei seinem hauptsächlich in Widersprüchen wurzelnden Charakter, hatte gerade dies ein lebhaftes Gefühl für sie in ihm erweckt. Ebenso klar sah er auch, daß die Liebe zu ihrem Kinde den Stempel des Leidenschaftlichen trug, sah wohl, wie jeden Morgen beim ersten Anblick des kleinen Bernhard die bleichen Wangen seiner Frau sich hoch rötheten und ihre matten Augen erglänzten, sah wohl, daß dies Kind allein den Schlüssel zu ihrem innersten Herzen besitze und der ganze Reiz ihres Lebens geworden. Darum glaubte er auch, und Jeder, der Gräfin Agnes kannte, mußte es mit ihm glauben, sie werde den Tod dieses vergötterten Kindes mit dem Leben oder mit ihrer Vernunft bezahlen.

Der Graf war im scharfen Trabe wohl eine halbe Meile geritten, als aufwirbelnder Staub ihm die Nähe eines Wagens verkündete. Er hielt die Zügel seines Pferdes an, um genauer zu sehen, und als er mit der Hand die Augen beschattete, dünkte es ihm wirklich, als wehe der bekannte blaue Reiseschleier seiner Frau aus dem entgegenkommenden Wagen auf.

Als er sie mit Gewißheit erkannte, schnürte sich seine Brust auf eine Weise zusammen, daß er nicht mehr Athem holen konnte. Wenn sie nun den Betrug

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[0039] war das Gefühl, das sie für ihren Gemahl hegte, sehr ähnlich, und kein anderer Mann hatte je selbst nur ihre Phantasie in Anspruch genommen. Wie ruhig sie ihm sich geschenkt, hatte Clemens auch wohl bemerkt, und vielleicht, bei seinem hauptsächlich in Widersprüchen wurzelnden Charakter, hatte gerade dies ein lebhaftes Gefühl für sie in ihm erweckt. Ebenso klar sah er auch, daß die Liebe zu ihrem Kinde den Stempel des Leidenschaftlichen trug, sah wohl, wie jeden Morgen beim ersten Anblick des kleinen Bernhard die bleichen Wangen seiner Frau sich hoch rötheten und ihre matten Augen erglänzten, sah wohl, daß dies Kind allein den Schlüssel zu ihrem innersten Herzen besitze und der ganze Reiz ihres Lebens geworden. Darum glaubte er auch, und Jeder, der Gräfin Agnes kannte, mußte es mit ihm glauben, sie werde den Tod dieses vergötterten Kindes mit dem Leben oder mit ihrer Vernunft bezahlen. Der Graf war im scharfen Trabe wohl eine halbe Meile geritten, als aufwirbelnder Staub ihm die Nähe eines Wagens verkündete. Er hielt die Zügel seines Pferdes an, um genauer zu sehen, und als er mit der Hand die Augen beschattete, dünkte es ihm wirklich, als wehe der bekannte blaue Reiseschleier seiner Frau aus dem entgegenkommenden Wagen auf. Als er sie mit Gewißheit erkannte, schnürte sich seine Brust auf eine Weise zusammen, daß er nicht mehr Athem holen konnte. Wenn sie nun den Betrug

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T15:13:13Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T15:13:13Z)

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Zitationshilfe: Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/39>, abgerufen am 23.11.2024.