Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Geben Sie mir das Kind mit, ich will es mit dem meinigen erziehen! Therese wurde blaß nur bei dem Gedanken, lachte dann aber hell auf. Wie Sie mich mit Ihrem Scherz erschreckt haben, gnädige Gräfin! Kein Scherz! Welch ein Glück für meinen kleinen Bernhard, einen solchen muntern Gespielen zu haben, und Sie haben ja doch hier so viel zu thun, daß Sie ihn nicht recht beaufsichtigen können. Meinen Sie, weil er die Schelle trägt? O Frau Gräfin, ich denke jede Minute des Tages an das Kind, es ist mein höchstes Glück, und mich von ihm zu trennen würde mir geradezu den Tod bringen. Dann kann natürlich auch nicht die Rede davon sein. Aber finden Sie nicht, daß die Kinder sich ähnlich sehen, dieselben blauen Augen, dieselben blonden Löckchen, dasselbe Stupnäschen, nur ist der Ihrige stärker. Und schöner, dachte Therese; und das war er auch, ihr kleiner Sohn überstrahlte das blasse Kind der Gräfin. Therese frug nun die Gräfin, ob sie keine Erfrischung zu nehmen wünsche. Mit der Sorglosigkeit, die ihr eigen war, sagte die bleiche Frau, indem sie ihr Gesicht mit halbgeschlossenen Augen auf die Hand stützte und, schon ermüdet, das Kind zu halten, es seiner Wärterin zurück- Geben Sie mir das Kind mit, ich will es mit dem meinigen erziehen! Therese wurde blaß nur bei dem Gedanken, lachte dann aber hell auf. Wie Sie mich mit Ihrem Scherz erschreckt haben, gnädige Gräfin! Kein Scherz! Welch ein Glück für meinen kleinen Bernhard, einen solchen muntern Gespielen zu haben, und Sie haben ja doch hier so viel zu thun, daß Sie ihn nicht recht beaufsichtigen können. Meinen Sie, weil er die Schelle trägt? O Frau Gräfin, ich denke jede Minute des Tages an das Kind, es ist mein höchstes Glück, und mich von ihm zu trennen würde mir geradezu den Tod bringen. Dann kann natürlich auch nicht die Rede davon sein. Aber finden Sie nicht, daß die Kinder sich ähnlich sehen, dieselben blauen Augen, dieselben blonden Löckchen, dasselbe Stupnäschen, nur ist der Ihrige stärker. Und schöner, dachte Therese; und das war er auch, ihr kleiner Sohn überstrahlte das blasse Kind der Gräfin. Therese frug nun die Gräfin, ob sie keine Erfrischung zu nehmen wünsche. Mit der Sorglosigkeit, die ihr eigen war, sagte die bleiche Frau, indem sie ihr Gesicht mit halbgeschlossenen Augen auf die Hand stützte und, schon ermüdet, das Kind zu halten, es seiner Wärterin zurück- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <pb facs="#f0024"/> <p>Geben Sie mir das Kind mit, ich will es mit dem meinigen erziehen!</p><lb/> <p>Therese wurde blaß nur bei dem Gedanken, lachte dann aber hell auf. Wie Sie mich mit Ihrem Scherz erschreckt haben, gnädige Gräfin!</p><lb/> <p>Kein Scherz! Welch ein Glück für meinen kleinen Bernhard, einen solchen muntern Gespielen zu haben, und Sie haben ja doch hier so viel zu thun, daß Sie ihn nicht recht beaufsichtigen können.</p><lb/> <p>Meinen Sie, weil er die Schelle trägt? O Frau Gräfin, ich denke jede Minute des Tages an das Kind, es ist mein höchstes Glück, und mich von ihm zu trennen würde mir geradezu den Tod bringen.</p><lb/> <p>Dann kann natürlich auch nicht die Rede davon sein. Aber finden Sie nicht, daß die Kinder sich ähnlich sehen, dieselben blauen Augen, dieselben blonden Löckchen, dasselbe Stupnäschen, nur ist der Ihrige stärker.</p><lb/> <p>Und schöner, dachte Therese; und das war er auch, ihr kleiner Sohn überstrahlte das blasse Kind der Gräfin.</p><lb/> <p>Therese frug nun die Gräfin, ob sie keine Erfrischung zu nehmen wünsche.</p><lb/> <p>Mit der Sorglosigkeit, die ihr eigen war, sagte die bleiche Frau, indem sie ihr Gesicht mit halbgeschlossenen Augen auf die Hand stützte und, schon ermüdet, das Kind zu halten, es seiner Wärterin zurück-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0024]
Geben Sie mir das Kind mit, ich will es mit dem meinigen erziehen!
Therese wurde blaß nur bei dem Gedanken, lachte dann aber hell auf. Wie Sie mich mit Ihrem Scherz erschreckt haben, gnädige Gräfin!
Kein Scherz! Welch ein Glück für meinen kleinen Bernhard, einen solchen muntern Gespielen zu haben, und Sie haben ja doch hier so viel zu thun, daß Sie ihn nicht recht beaufsichtigen können.
Meinen Sie, weil er die Schelle trägt? O Frau Gräfin, ich denke jede Minute des Tages an das Kind, es ist mein höchstes Glück, und mich von ihm zu trennen würde mir geradezu den Tod bringen.
Dann kann natürlich auch nicht die Rede davon sein. Aber finden Sie nicht, daß die Kinder sich ähnlich sehen, dieselben blauen Augen, dieselben blonden Löckchen, dasselbe Stupnäschen, nur ist der Ihrige stärker.
Und schöner, dachte Therese; und das war er auch, ihr kleiner Sohn überstrahlte das blasse Kind der Gräfin.
Therese frug nun die Gräfin, ob sie keine Erfrischung zu nehmen wünsche.
Mit der Sorglosigkeit, die ihr eigen war, sagte die bleiche Frau, indem sie ihr Gesicht mit halbgeschlossenen Augen auf die Hand stützte und, schon ermüdet, das Kind zu halten, es seiner Wärterin zurück-
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/24>, abgerufen am 16.07.2024. |