Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Da ertönte auf dem Gange ein helles Glöckchen. Was ist das? frug die Gräfin. Therese lachte! O, weiter nichts als mein kleiner Clemens. Weil nicht immer Jemand Zeit hat, auf ihn zu achten, und ich doch von dem kleinen Manne wissen muß, wo er ist, habe ich ihm eine kleine helle Schafschelle umgebunden, da kann ich ihn immer gleich finden, wenn er sich verlaufen hat. Die Gräfin schlug erschrocken die Hände zusammen. Welche Grausamkeit! das arme Kind! Wenn mein Mann hört, wie hart Sie seinen kleinen Pathen behandeln! In diesem Augenblicke öffnete Therese ihrem Kinde die Thüre und hörte darüber nicht die Vorwürfe der Dame. Auf der Schwelle erschien nun ein prächtiges Kind. Nicht viel größer und auch nicht viel stärker als der gräfliche Sproß, aber wie viel gesünder und lebhafter und selbständiger! Wie ein zweijähriges Kind durchrannte er das Zimmer auf den kleinen Grafen zu und streckte sein Aermchen nach ihm aus und streichelte seine Händchen, indem er immer mit schmeichelndem Tone: Ei, ei! rief. Therese weidete sich an dem Anblick, die Gräfin aber, indem sie ihre schmale durchsichtige Hand auf den blonden Lockenkopf des Pachtersohnes legte, sagte zu seiner Mutter mit Thränen in den Augen: Da ertönte auf dem Gange ein helles Glöckchen. Was ist das? frug die Gräfin. Therese lachte! O, weiter nichts als mein kleiner Clemens. Weil nicht immer Jemand Zeit hat, auf ihn zu achten, und ich doch von dem kleinen Manne wissen muß, wo er ist, habe ich ihm eine kleine helle Schafschelle umgebunden, da kann ich ihn immer gleich finden, wenn er sich verlaufen hat. Die Gräfin schlug erschrocken die Hände zusammen. Welche Grausamkeit! das arme Kind! Wenn mein Mann hört, wie hart Sie seinen kleinen Pathen behandeln! In diesem Augenblicke öffnete Therese ihrem Kinde die Thüre und hörte darüber nicht die Vorwürfe der Dame. Auf der Schwelle erschien nun ein prächtiges Kind. Nicht viel größer und auch nicht viel stärker als der gräfliche Sproß, aber wie viel gesünder und lebhafter und selbständiger! Wie ein zweijähriges Kind durchrannte er das Zimmer auf den kleinen Grafen zu und streckte sein Aermchen nach ihm aus und streichelte seine Händchen, indem er immer mit schmeichelndem Tone: Ei, ei! rief. Therese weidete sich an dem Anblick, die Gräfin aber, indem sie ihre schmale durchsichtige Hand auf den blonden Lockenkopf des Pachtersohnes legte, sagte zu seiner Mutter mit Thränen in den Augen: <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <pb facs="#f0023"/> <p>Da ertönte auf dem Gange ein helles Glöckchen.</p><lb/> <p>Was ist das? frug die Gräfin.</p><lb/> <p>Therese lachte! O, weiter nichts als mein kleiner Clemens. Weil nicht immer Jemand Zeit hat, auf ihn zu achten, und ich doch von dem kleinen Manne wissen muß, wo er ist, habe ich ihm eine kleine helle Schafschelle umgebunden, da kann ich ihn immer gleich finden, wenn er sich verlaufen hat.</p><lb/> <p>Die Gräfin schlug erschrocken die Hände zusammen.</p><lb/> <p>Welche Grausamkeit! das arme Kind! Wenn mein Mann hört, wie hart Sie seinen kleinen Pathen behandeln!</p><lb/> <p>In diesem Augenblicke öffnete Therese ihrem Kinde die Thüre und hörte darüber nicht die Vorwürfe der Dame.</p><lb/> <p>Auf der Schwelle erschien nun ein prächtiges Kind. Nicht viel größer und auch nicht viel stärker als der gräfliche Sproß, aber wie viel gesünder und lebhafter und selbständiger!</p><lb/> <p>Wie ein zweijähriges Kind durchrannte er das Zimmer auf den kleinen Grafen zu und streckte sein Aermchen nach ihm aus und streichelte seine Händchen, indem er immer mit schmeichelndem Tone: Ei, ei! rief.</p><lb/> <p>Therese weidete sich an dem Anblick, die Gräfin aber, indem sie ihre schmale durchsichtige Hand auf den blonden Lockenkopf des Pachtersohnes legte, sagte zu seiner Mutter mit Thränen in den Augen:</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0023]
Da ertönte auf dem Gange ein helles Glöckchen.
Was ist das? frug die Gräfin.
Therese lachte! O, weiter nichts als mein kleiner Clemens. Weil nicht immer Jemand Zeit hat, auf ihn zu achten, und ich doch von dem kleinen Manne wissen muß, wo er ist, habe ich ihm eine kleine helle Schafschelle umgebunden, da kann ich ihn immer gleich finden, wenn er sich verlaufen hat.
Die Gräfin schlug erschrocken die Hände zusammen.
Welche Grausamkeit! das arme Kind! Wenn mein Mann hört, wie hart Sie seinen kleinen Pathen behandeln!
In diesem Augenblicke öffnete Therese ihrem Kinde die Thüre und hörte darüber nicht die Vorwürfe der Dame.
Auf der Schwelle erschien nun ein prächtiges Kind. Nicht viel größer und auch nicht viel stärker als der gräfliche Sproß, aber wie viel gesünder und lebhafter und selbständiger!
Wie ein zweijähriges Kind durchrannte er das Zimmer auf den kleinen Grafen zu und streckte sein Aermchen nach ihm aus und streichelte seine Händchen, indem er immer mit schmeichelndem Tone: Ei, ei! rief.
Therese weidete sich an dem Anblick, die Gräfin aber, indem sie ihre schmale durchsichtige Hand auf den blonden Lockenkopf des Pachtersohnes legte, sagte zu seiner Mutter mit Thränen in den Augen:
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/23>, abgerufen am 26.07.2024. |