Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Therese lachte. Nun verstehe ich dich! Aber du thust gewiß dem Grafen Unrecht. Bernhard schwieg. Am andern Morgen ritt Artmann mit dem Reitknecht nach dem Schlosse. Ein kleines Mantelsäckchen, das er hinter sich auf das Pferd geschnallt hatte, enthielt seine Garderobe, denselben tadellosen Berliner Frack, in welchem er sich vor einem Jahre hatte trauen lassen. Kaum angekommen, wies ihm der Verwalter auf seinen Wunsch ein Zimmer an, wo er sich umkleidete, und als er nach einer Viertelstunde heraustrat, konnte gewiß Niemand in dem schönen, schlanken, blonden Manne den Pachter desselben hochgeborenen Herrn sehen, der ihm in ziemlich vernachlässigter Kleidung auf dem Corridor begegnete. Ei, wie fein hast du dich gemacht, sagte etwas spöttisch der Graf. Bernhard wurde dunkelroth, sagte aber nur, indem er einen kleinen Strauß der schönsten Rosenknospen dem Grafen entgegenhielt: Wollen Sie das der Gräfin vom Paten Ihres Kindes geben? Meine Frau darf keine Blumen riechen, antwortete der Graf, indem er nachlässig den Strauß auf den nächsten Stuhl warf. So will ich sie meiner Frau wieder mitbringen, Therese lachte. Nun verstehe ich dich! Aber du thust gewiß dem Grafen Unrecht. Bernhard schwieg. Am andern Morgen ritt Artmann mit dem Reitknecht nach dem Schlosse. Ein kleines Mantelsäckchen, das er hinter sich auf das Pferd geschnallt hatte, enthielt seine Garderobe, denselben tadellosen Berliner Frack, in welchem er sich vor einem Jahre hatte trauen lassen. Kaum angekommen, wies ihm der Verwalter auf seinen Wunsch ein Zimmer an, wo er sich umkleidete, und als er nach einer Viertelstunde heraustrat, konnte gewiß Niemand in dem schönen, schlanken, blonden Manne den Pachter desselben hochgeborenen Herrn sehen, der ihm in ziemlich vernachlässigter Kleidung auf dem Corridor begegnete. Ei, wie fein hast du dich gemacht, sagte etwas spöttisch der Graf. Bernhard wurde dunkelroth, sagte aber nur, indem er einen kleinen Strauß der schönsten Rosenknospen dem Grafen entgegenhielt: Wollen Sie das der Gräfin vom Paten Ihres Kindes geben? Meine Frau darf keine Blumen riechen, antwortete der Graf, indem er nachlässig den Strauß auf den nächsten Stuhl warf. So will ich sie meiner Frau wieder mitbringen, <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <pb facs="#f0016"/> <p>Therese lachte. Nun verstehe ich dich! Aber du thust gewiß dem Grafen Unrecht.</p><lb/> <p>Bernhard schwieg.</p><lb/> <p>Am andern Morgen ritt Artmann mit dem Reitknecht nach dem Schlosse. Ein kleines Mantelsäckchen, das er hinter sich auf das Pferd geschnallt hatte, enthielt seine Garderobe, denselben tadellosen Berliner Frack, in welchem er sich vor einem Jahre hatte trauen lassen.</p><lb/> <p>Kaum angekommen, wies ihm der Verwalter auf seinen Wunsch ein Zimmer an, wo er sich umkleidete, und als er nach einer Viertelstunde heraustrat, konnte gewiß Niemand in dem schönen, schlanken, blonden Manne den Pachter desselben hochgeborenen Herrn sehen, der ihm in ziemlich vernachlässigter Kleidung auf dem Corridor begegnete.</p><lb/> <p>Ei, wie fein hast du dich gemacht, sagte etwas spöttisch der Graf.</p><lb/> <p>Bernhard wurde dunkelroth, sagte aber nur, indem er einen kleinen Strauß der schönsten Rosenknospen dem Grafen entgegenhielt:</p><lb/> <p>Wollen Sie das der Gräfin vom Paten Ihres Kindes geben?</p><lb/> <p>Meine Frau darf keine Blumen riechen, antwortete der Graf, indem er nachlässig den Strauß auf den nächsten Stuhl warf.</p><lb/> <p>So will ich sie meiner Frau wieder mitbringen,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0016]
Therese lachte. Nun verstehe ich dich! Aber du thust gewiß dem Grafen Unrecht.
Bernhard schwieg.
Am andern Morgen ritt Artmann mit dem Reitknecht nach dem Schlosse. Ein kleines Mantelsäckchen, das er hinter sich auf das Pferd geschnallt hatte, enthielt seine Garderobe, denselben tadellosen Berliner Frack, in welchem er sich vor einem Jahre hatte trauen lassen.
Kaum angekommen, wies ihm der Verwalter auf seinen Wunsch ein Zimmer an, wo er sich umkleidete, und als er nach einer Viertelstunde heraustrat, konnte gewiß Niemand in dem schönen, schlanken, blonden Manne den Pachter desselben hochgeborenen Herrn sehen, der ihm in ziemlich vernachlässigter Kleidung auf dem Corridor begegnete.
Ei, wie fein hast du dich gemacht, sagte etwas spöttisch der Graf.
Bernhard wurde dunkelroth, sagte aber nur, indem er einen kleinen Strauß der schönsten Rosenknospen dem Grafen entgegenhielt:
Wollen Sie das der Gräfin vom Paten Ihres Kindes geben?
Meine Frau darf keine Blumen riechen, antwortete der Graf, indem er nachlässig den Strauß auf den nächsten Stuhl warf.
So will ich sie meiner Frau wieder mitbringen,
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Zitationshilfe: | Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/16>, abgerufen am 27.07.2024. |