an meinen Vater, und dieser erklärte mir die Bil- der einfach, aber wahr. Jch hing an seinen Lippen, und wollte ihn nimmer wieder lassen; aber der gute Vater mußte doch oft abwesend seyn, und ich blieb dann mit meinem lieben Buche allein. Wenn du erst lesen kannst, trö- stete mich der Vater, dann kannst du dir die Geschichten selbst erklären. Das war ein Blitz- strahl in meine Seele geworfen. Jch übte mich unermüdet, und in kurzen las ich fertig in meiner lieben Geschichte. Nun war meine Be- schäftigung gefunden, ich fühlte keine Leere mehr. Alle Zeit wo ich nicht im Freien herumsprang oder mit meinen Aeltern plauderte, saß ich bei dem Buche. Jch las und las wieder; Begriffe reihten sich an Begriffe, und ich verstand, ich fühlte was ich gelesen. Jch kann im eigentlichsten Sinne sagen, ich bin unter den Heroen der Vorwelt herangewachsen. Sie waren meine Vorbilder, dienten mir zum Maßstab für die Ereignisse der Gegenwart. Unter meinen frühesten Erinnerungen ist mir eine Szene leb- haft gegenmärtig geblieben, welche diese meine Heroenbilder erregten. Jch mochte vier Jahr
an meinen Vater, und dieſer erklaͤrte mir die Bil- der einfach, aber wahr. Jch hing an ſeinen Lippen, und wollte ihn nimmer wieder laſſen; aber der gute Vater mußte doch oft abweſend ſeyn, und ich blieb dann mit meinem lieben Buche allein. Wenn du erſt leſen kannſt, troͤ- ſtete mich der Vater, dann kannſt du dir die Geſchichten ſelbſt erklaͤren. Das war ein Blitz- ſtrahl in meine Seele geworfen. Jch uͤbte mich unermuͤdet, und in kurzen las ich fertig in meiner lieben Geſchichte. Nun war meine Be- ſchaͤftigung gefunden, ich fuͤhlte keine Leere mehr. Alle Zeit wo ich nicht im Freien herumſprang oder mit meinen Aeltern plauderte, ſaß ich bei dem Buche. Jch las und las wieder; Begriffe reihten ſich an Begriffe, und ich verſtand, ich fuͤhlte was ich geleſen. Jch kann im eigentlichſten Sinne ſagen, ich bin unter den Heroen der Vorwelt herangewachſen. Sie waren meine Vorbilder, dienten mir zum Maßſtab fuͤr die Ereigniſſe der Gegenwart. Unter meinen fruͤheſten Erinnerungen iſt mir eine Szene leb- haft gegenmaͤrtig geblieben, welche dieſe meine Heroenbilder erregten. Jch mochte vier Jahr
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an meinen Vater, und dieſer erklaͤrte mir die Bil-
der einfach, aber wahr. Jch hing an ſeinen
Lippen, und wollte ihn nimmer wieder laſſen;
aber der gute Vater mußte doch oft abweſend
ſeyn, und ich blieb dann mit meinem lieben
Buche allein. Wenn du erſt leſen kannſt, troͤ-
ſtete mich der Vater, dann kannſt du dir die
Geſchichten ſelbſt erklaͤren. Das war ein Blitz-
ſtrahl in meine Seele geworfen. Jch uͤbte mich
unermuͤdet, und in kurzen las ich fertig in
meiner lieben Geſchichte. Nun war meine Be-
ſchaͤftigung gefunden, ich fuͤhlte keine Leere mehr.
Alle Zeit wo ich nicht im Freien herumſprang
oder mit meinen Aeltern plauderte, ſaß ich bei
dem Buche. Jch las und las wieder; Begriffe
reihten ſich an Begriffe, und ich verſtand, ich fuͤhlte
was ich geleſen. Jch kann im eigentlichſten
Sinne ſagen, ich bin unter den Heroen der
Vorwelt herangewachſen. Sie waren meine
Vorbilder, dienten mir zum Maßſtab fuͤr
die Ereigniſſe der Gegenwart. Unter meinen
fruͤheſten Erinnerungen iſt mir eine Szene leb-
haft gegenmaͤrtig geblieben, welche dieſe meine
Heroenbilder erregten. Jch mochte vier Jahr
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Frölich, Henriette: Virginia oder die Kolonie von Kentucky. Bd. 1. Hrsg. v. Jerta. Berlin, 1820, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/froelich_virginia01_1820/63>, abgerufen am 27.07.2024.
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