Frey, Jacob: Das erfüllte Versprechen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 23. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–107. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Begleitern nach kurzer und schweigsamer Fahrt vor einem Seiteneingange des Münsters anhielt, mußte er gewaltsam seine Gedanken sammeln, um sich deutlich zu machen, was eigentlich vorgehen sollte. Der Sturm widerstreitender Empfindungen, der nach langen Tagen peinlicher Ungewißheit so plötzlich über ihn hereingebrochen, hatte seine sonst rüstige Kraft erschöpft für den Augenblick. Juliens Brüder nahmen ihn höflich in die Mitte und traten mit ihm durch die Kirchenthüre. Der weite, in einem kühlen Zwielichte dämmernde Raum war menschenleer und nur von tief anschwellenden Orgeltönen angefüllt; aber im nämlichen Augenblicke öffnete sich auch die gegenüberstehende Thüre, und Theobald konnte nur mit Mühe einen lauten Ausruf zurückhalten, als er in dem einfallenden Lichtstreifen Julien erkannte, die, von ihrem Vater geführt und von einem Geistlichen in vollem Ornate gefolgt, von jener Seite hereintrat. Die beiden Gruppen näherten sich langsam dem Altare, der ungefähr in gleicher Entfernung zwischen ihnen in der Mitte stand. Vor demselben angekommen, wichen die bisherigen Begleiter plötzlich einen Schritt zurück, der Geistliche stieg die Stufen hinan, und Theobald und Julia standen Auge in Auge gesenkt ihm allein gegenüber. Sie war bleich wie die weiße Rose, die von dem schmucklosen Myrthenkranze festgehalten neben ihrer Schläfe herabnickte, aber von jener duftigen, fast überirdischen Schönheit überhaucht, die sich manchmal auf Begleitern nach kurzer und schweigsamer Fahrt vor einem Seiteneingange des Münsters anhielt, mußte er gewaltsam seine Gedanken sammeln, um sich deutlich zu machen, was eigentlich vorgehen sollte. Der Sturm widerstreitender Empfindungen, der nach langen Tagen peinlicher Ungewißheit so plötzlich über ihn hereingebrochen, hatte seine sonst rüstige Kraft erschöpft für den Augenblick. Juliens Brüder nahmen ihn höflich in die Mitte und traten mit ihm durch die Kirchenthüre. Der weite, in einem kühlen Zwielichte dämmernde Raum war menschenleer und nur von tief anschwellenden Orgeltönen angefüllt; aber im nämlichen Augenblicke öffnete sich auch die gegenüberstehende Thüre, und Theobald konnte nur mit Mühe einen lauten Ausruf zurückhalten, als er in dem einfallenden Lichtstreifen Julien erkannte, die, von ihrem Vater geführt und von einem Geistlichen in vollem Ornate gefolgt, von jener Seite hereintrat. Die beiden Gruppen näherten sich langsam dem Altare, der ungefähr in gleicher Entfernung zwischen ihnen in der Mitte stand. Vor demselben angekommen, wichen die bisherigen Begleiter plötzlich einen Schritt zurück, der Geistliche stieg die Stufen hinan, und Theobald und Julia standen Auge in Auge gesenkt ihm allein gegenüber. Sie war bleich wie die weiße Rose, die von dem schmucklosen Myrthenkranze festgehalten neben ihrer Schläfe herabnickte, aber von jener duftigen, fast überirdischen Schönheit überhaucht, die sich manchmal auf <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="6"> <p><pb facs="#f0102"/> Begleitern nach kurzer und schweigsamer Fahrt vor einem Seiteneingange des Münsters anhielt, mußte er gewaltsam seine Gedanken sammeln, um sich deutlich zu machen, was eigentlich vorgehen sollte. Der Sturm widerstreitender Empfindungen, der nach langen Tagen peinlicher Ungewißheit so plötzlich über ihn hereingebrochen, hatte seine sonst rüstige Kraft erschöpft für den Augenblick. Juliens Brüder nahmen ihn höflich in die Mitte und traten mit ihm durch die Kirchenthüre. Der weite, in einem kühlen Zwielichte dämmernde Raum war menschenleer und nur von tief anschwellenden Orgeltönen angefüllt; aber im nämlichen Augenblicke öffnete sich auch die gegenüberstehende Thüre, und Theobald konnte nur mit Mühe einen lauten Ausruf zurückhalten, als er in dem einfallenden Lichtstreifen Julien erkannte, die, von ihrem Vater geführt und von einem Geistlichen in vollem Ornate gefolgt, von jener Seite hereintrat.</p><lb/> <p>Die beiden Gruppen näherten sich langsam dem Altare, der ungefähr in gleicher Entfernung zwischen ihnen in der Mitte stand. Vor demselben angekommen, wichen die bisherigen Begleiter plötzlich einen Schritt zurück, der Geistliche stieg die Stufen hinan, und Theobald und Julia standen Auge in Auge gesenkt ihm allein gegenüber.</p><lb/> <p>Sie war bleich wie die weiße Rose, die von dem schmucklosen Myrthenkranze festgehalten neben ihrer Schläfe herabnickte, aber von jener duftigen, fast überirdischen Schönheit überhaucht, die sich manchmal auf<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0102]
Begleitern nach kurzer und schweigsamer Fahrt vor einem Seiteneingange des Münsters anhielt, mußte er gewaltsam seine Gedanken sammeln, um sich deutlich zu machen, was eigentlich vorgehen sollte. Der Sturm widerstreitender Empfindungen, der nach langen Tagen peinlicher Ungewißheit so plötzlich über ihn hereingebrochen, hatte seine sonst rüstige Kraft erschöpft für den Augenblick. Juliens Brüder nahmen ihn höflich in die Mitte und traten mit ihm durch die Kirchenthüre. Der weite, in einem kühlen Zwielichte dämmernde Raum war menschenleer und nur von tief anschwellenden Orgeltönen angefüllt; aber im nämlichen Augenblicke öffnete sich auch die gegenüberstehende Thüre, und Theobald konnte nur mit Mühe einen lauten Ausruf zurückhalten, als er in dem einfallenden Lichtstreifen Julien erkannte, die, von ihrem Vater geführt und von einem Geistlichen in vollem Ornate gefolgt, von jener Seite hereintrat.
Die beiden Gruppen näherten sich langsam dem Altare, der ungefähr in gleicher Entfernung zwischen ihnen in der Mitte stand. Vor demselben angekommen, wichen die bisherigen Begleiter plötzlich einen Schritt zurück, der Geistliche stieg die Stufen hinan, und Theobald und Julia standen Auge in Auge gesenkt ihm allein gegenüber.
Sie war bleich wie die weiße Rose, die von dem schmucklosen Myrthenkranze festgehalten neben ihrer Schläfe herabnickte, aber von jener duftigen, fast überirdischen Schönheit überhaucht, die sich manchmal auf
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Zitationshilfe: | Frey, Jacob: Das erfüllte Versprechen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 23. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–107. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/frey_versprechen_1910/102>, abgerufen am 27.07.2024. |