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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Das Rufen des Namens "Emmy" in Anfällen von Verwirrung, welche nach den Regeln hysterischer Anfälle die häufigen Zustände

vollinhaltlich bestätigt wurde. Sie hatte vom Eintritt der Menses an durch Jahre an der Cephalaea adolescentium gelitten, die ihr jede anhaltende Beschäftigung unmöglich machte und sie in ihrer Ausbildung unterbrach. Endlich von diesem Hinderniss befreit, beschloss das ehrgeizige und etwas einfältige Kind, mächtig an sich zu arbeiten, um seine Schwestern und Altersgenossinnen wieder einzuholen. Dabei strengte sie sich über jedes Maass an, und eine solche Bemühung endete gewöhnlich mit einem Ausbruch von Verzweiflung darüber, dass sie ihre Kräfte überschätzt habe. Natürlich pflegte sie sich auch körperlich mit anderen Mädchen zu vergleichen und unglücklich zu sein, wenn sie an sich einen körperlichen Nachtheil entdeckt hatte. Ihr (ganz deutlicher) Prognathismus begann sie zu kränken, und sie kam auf die Idee, ihn zu corrigiren, indem sie sich Viertelstunden lang darin übte, die Oberlippe über die vorstehenden Zähne herabzuziehen. Die Erfolglosigkeit dieser kindischen Bemühung führte einmal zu einem Ausbruch von Verzweiflung, und von da an war Ziehen und Prickeln von der Wange nach abwärts als Inhalt der einen Art von Anfällen gegeben. - Nicht minder durchsichtig war die Determinirung der anderen Anfälle mit dem motorischen Symptom der Zehenstreckung und Zehenunruhe. Es war mir angegeben worden, dass der erste solche Anfall nach einer Partie auf den Schafberg bei Ischl aufgetreten sei, und die Angehörigen waren natürlich geneigt, ihn von Ueberanstrengung abzuleiten. Das Mädchen berichtete aber Folgendes: Es sei ein unter den Geschwistern beliebtes Thema gegenseitiger Neckerei, einander auf ihre (unleugbar) grossen Füsse aufmerksam zu machen. Unsere Patientin, seit langer Zeit über diesen Schönheitsfehler unglücklich, versuchte ihren Fuss in die engsten Stiefel zu zwängen, allein der aufmerksame Papa litt dies nicht und sorgte dafür, dass sie nur bequeme Fussbekleidung trug. Sie war recht unzufrieden mit dieser Verfügung, dachte immer daran und gewöhnte sich, mit den Zehen im Schuh zu spielen, wie man es thut, wenn man abmessen will, ob der Schuh um vieles zu gross ist, einen wieviel kleineren Schuh man vertragen könnte u. dgl. Während der Bergpartie auf den Schafberg, die sie gar nicht anstrengend fand, war natürlich wieder Gelegenheit, sich bei den verkürzten Röcken mit dem Schuhwerk zu beschäftigen. Eine ihrer Schwestern sagte ihr unterwegs: "Du hast aber heute besonders grosse Schuhe angezogen." Sie probirte mit den Zehen zu spielen; es kam ihr auch so vor. Die Aufregung über die unglücklich grossen Füsse verliess sie nicht mehr, und als sie nach Hause kamen, brach der erste Anfall los, in dem als Erinnerungssymbol für den ganzen verstimmenden Gedankengang die Zehen krampften und sich unwillkürlich bewegten. Ich bemerke, daas es sich hier um Anfalls- und nicht um Dauersymptome handelt; ferner füge ich hinzu, dass nach dieser Beichte die Anfälle der ersten Art aufhörten, die der zweiten mit Zehenunruhe sich fortsetzten. Es musste also wohl noch ein Stück dabei sein, das nicht gebeichtet wurde. Nachschrift: Ich habe später auch diess erfahren. Das thörichte Mädchen arbeitete darum so übereifrig an seiner Verschönerung, weil es - einem jungen Vetter gefallen wollte.

Das Rufen des Namens „Emmy“ in Anfällen von Verwirrung, welche nach den Regeln hysterischer Anfälle die häufigen Zustände

vollinhaltlich bestätigt wurde. Sie hatte vom Eintritt der Menses an durch Jahre an der Cephalaea adolescentium gelitten, die ihr jede anhaltende Beschäftigung unmöglich machte und sie in ihrer Ausbildung unterbrach. Endlich von diesem Hinderniss befreit, beschloss das ehrgeizige und etwas einfältige Kind, mächtig an sich zu arbeiten, um seine Schwestern und Altersgenossinnen wieder einzuholen. Dabei strengte sie sich über jedes Maass an, und eine solche Bemühung endete gewöhnlich mit einem Ausbruch von Verzweiflung darüber, dass sie ihre Kräfte überschätzt habe. Natürlich pflegte sie sich auch körperlich mit anderen Mädchen zu vergleichen und unglücklich zu sein, wenn sie an sich einen körperlichen Nachtheil entdeckt hatte. Ihr (ganz deutlicher) Prognathismus begann sie zu kränken, und sie kam auf die Idee, ihn zu corrigiren, indem sie sich Viertelstunden lang darin übte, die Oberlippe über die vorstehenden Zähne herabzuziehen. Die Erfolglosigkeit dieser kindischen Bemühung führte einmal zu einem Ausbruch von Verzweiflung, und von da an war Ziehen und Prickeln von der Wange nach abwärts als Inhalt der einen Art von Anfällen gegeben. – Nicht minder durchsichtig war die Determinirung der anderen Anfälle mit dem motorischen Symptom der Zehenstreckung und Zehenunruhe. Es war mir angegeben worden, dass der erste solche Anfall nach einer Partie auf den Schafberg bei Ischl aufgetreten sei, und die Angehörigen waren natürlich geneigt, ihn von Ueberanstrengung abzuleiten. Das Mädchen berichtete aber Folgendes: Es sei ein unter den Geschwistern beliebtes Thema gegenseitiger Neckerei, einander auf ihre (unleugbar) grossen Füsse aufmerksam zu machen. Unsere Patientin, seit langer Zeit über diesen Schönheitsfehler unglücklich, versuchte ihren Fuss in die engsten Stiefel zu zwängen, allein der aufmerksame Papa litt dies nicht und sorgte dafür, dass sie nur bequeme Fussbekleidung trug. Sie war recht unzufrieden mit dieser Verfügung, dachte immer daran und gewöhnte sich, mit den Zehen im Schuh zu spielen, wie man es thut, wenn man abmessen will, ob der Schuh um vieles zu gross ist, einen wieviel kleineren Schuh man vertragen könnte u. dgl. Während der Bergpartie auf den Schafberg, die sie gar nicht anstrengend fand, war natürlich wieder Gelegenheit, sich bei den verkürzten Röcken mit dem Schuhwerk zu beschäftigen. Eine ihrer Schwestern sagte ihr unterwegs: „Du hast aber heute besonders grosse Schuhe angezogen.“ Sie probirte mit den Zehen zu spielen; es kam ihr auch so vor. Die Aufregung über die unglücklich grossen Füsse verliess sie nicht mehr, und als sie nach Hause kamen, brach der erste Anfall los, in dem als Erinnerungssymbol für den ganzen verstimmenden Gedankengang die Zehen krampften und sich unwillkürlich bewegten. Ich bemerke, daas es sich hier um Anfalls- und nicht um Dauersymptome handelt; ferner füge ich hinzu, dass nach dieser Beichte die Anfälle der ersten Art aufhörten, die der zweiten mit Zehenunruhe sich fortsetzten. Es musste also wohl noch ein Stück dabei sein, das nicht gebeichtet wurde. Nachschrift: Ich habe später auch diess erfahren. Das thörichte Mädchen arbeitete darum so übereifrig an seiner Verschönerung, weil es – einem jungen Vetter gefallen wollte.
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[80/0086] Das Rufen des Namens „Emmy“ in Anfällen von Verwirrung, welche nach den Regeln hysterischer Anfälle die häufigen Zustände vollinhaltlich bestätigt wurde. Sie hatte vom Eintritt der Menses an durch Jahre an der Cephalaea adolescentium gelitten, die ihr jede anhaltende Beschäftigung unmöglich machte und sie in ihrer Ausbildung unterbrach. Endlich von diesem Hinderniss befreit, beschloss das ehrgeizige und etwas einfältige Kind, mächtig an sich zu arbeiten, um seine Schwestern und Altersgenossinnen wieder einzuholen. Dabei strengte sie sich über jedes Maass an, und eine solche Bemühung endete gewöhnlich mit einem Ausbruch von Verzweiflung darüber, dass sie ihre Kräfte überschätzt habe. Natürlich pflegte sie sich auch körperlich mit anderen Mädchen zu vergleichen und unglücklich zu sein, wenn sie an sich einen körperlichen Nachtheil entdeckt hatte. Ihr (ganz deutlicher) Prognathismus begann sie zu kränken, und sie kam auf die Idee, ihn zu corrigiren, indem sie sich Viertelstunden lang darin übte, die Oberlippe über die vorstehenden Zähne herabzuziehen. Die Erfolglosigkeit dieser kindischen Bemühung führte einmal zu einem Ausbruch von Verzweiflung, und von da an war Ziehen und Prickeln von der Wange nach abwärts als Inhalt der einen Art von Anfällen gegeben. – Nicht minder durchsichtig war die Determinirung der anderen Anfälle mit dem motorischen Symptom der Zehenstreckung und Zehenunruhe. Es war mir angegeben worden, dass der erste solche Anfall nach einer Partie auf den Schafberg bei Ischl aufgetreten sei, und die Angehörigen waren natürlich geneigt, ihn von Ueberanstrengung abzuleiten. Das Mädchen berichtete aber Folgendes: Es sei ein unter den Geschwistern beliebtes Thema gegenseitiger Neckerei, einander auf ihre (unleugbar) grossen Füsse aufmerksam zu machen. Unsere Patientin, seit langer Zeit über diesen Schönheitsfehler unglücklich, versuchte ihren Fuss in die engsten Stiefel zu zwängen, allein der aufmerksame Papa litt dies nicht und sorgte dafür, dass sie nur bequeme Fussbekleidung trug. Sie war recht unzufrieden mit dieser Verfügung, dachte immer daran und gewöhnte sich, mit den Zehen im Schuh zu spielen, wie man es thut, wenn man abmessen will, ob der Schuh um vieles zu gross ist, einen wieviel kleineren Schuh man vertragen könnte u. dgl. Während der Bergpartie auf den Schafberg, die sie gar nicht anstrengend fand, war natürlich wieder Gelegenheit, sich bei den verkürzten Röcken mit dem Schuhwerk zu beschäftigen. Eine ihrer Schwestern sagte ihr unterwegs: „Du hast aber heute besonders grosse Schuhe angezogen.“ Sie probirte mit den Zehen zu spielen; es kam ihr auch so vor. Die Aufregung über die unglücklich grossen Füsse verliess sie nicht mehr, und als sie nach Hause kamen, brach der erste Anfall los, in dem als Erinnerungssymbol für den ganzen verstimmenden Gedankengang die Zehen krampften und sich unwillkürlich bewegten. Ich bemerke, daas es sich hier um Anfalls- und nicht um Dauersymptome handelt; ferner füge ich hinzu, dass nach dieser Beichte die Anfälle der ersten Art aufhörten, die der zweiten mit Zehenunruhe sich fortsetzten. Es musste also wohl noch ein Stück dabei sein, das nicht gebeichtet wurde. Nachschrift: Ich habe später auch diess erfahren. Das thörichte Mädchen arbeitete darum so übereifrig an seiner Verschönerung, weil es – einem jungen Vetter gefallen wollte.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/86>, abgerufen am 27.04.2024.