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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Beide, durch ihre Entstehungsgeschichte nahe verwandten Symptome, Schnalzen und Stottern, blieben auch fernerhin associirt und wurden durch eine Wiederholung bei einem ähnlichen Anlasse zu Dauersymptomen. Dann aber wurden sie einer weiteren Verwendung zugeführt. Unter heftigem Erschrecken entstanden, gesellten sie sich von nun an (nach dem Mechanismus der monosymptomatischen Hysterie, den ich bei Fall V aufzeigen werde) zu jedem Schreck hinzu, wenn derselbe auch nicht zum Objectiviren einer Contrastvorstellung Anlass geben konnte.

Sie waren endlich mit so vielen Traumen verknüpft, hatten soviel Recht, sich in der Erinnerung zu reproduciren, dass sie ohne weiteren Anlass nach Art eines sinnlosen Tick beständig die Rede unterbrachen. Die hypnotische Analyse konnte dann aber zeigen, wieviel Bedeutung sich hinter diesem scheinbaren Tick verberge, und wenn es der Breuer'schen Methode hier nicht gelang, beide Symptome mit einem Schlage vollständig zum Verschwinden zu bringen, so kam diess daher, dass die Katharsis nur auf die drei Haupttraumen und nicht auf die secundär associirten ausgedehnt wurde.1

1 Ich könnte hier den Eindruck erwecken, als legte ich den Details der Symptome zuviel Gewicht bei und verlöre mich in überflüssige Zeichendeuterei. Allein ich habe gelernt, dass die Determinirung der hysterischen Symptome wirklich bis in deren feinste Ausführung hinabreicht, und dass man ihnen nicht leicht zuviel Sinn unterlegen kann. Ich will ein Beispiel beibringen, das mich rechtfertigen wird. Vor Monaten behandelte ich ein 18jähriges Mädchen aus belasteter Familie, an dessen complicirter Neurose die Hysterie ihren gebührenden Antheil hatte. Das erste, was ich von ihr erfuhr, war die Klage über Anfälle von Verzweiflung mit zweierlei Inhalt. Bei den einen verspürte sie ein Ziehen und Prickeln in der unteren Gesichtspartie von den Wangen herab gegen den Mund; bei den anderen streckten sich die Zehen an beiden Füssen krampfhaft und spielten ruhelos hin und her. Ich war anfangs auch nicht geneigt, diesen Details viel Bedeutung beizumessen, und früheren Bearbeitern der Hysterie wäre es sicherlich nahe gelegen, in diesen Erscheinungen Beweise für die Reizung corticaler Centren beim hysterischen Anfall zu erblicken. Wo die Centren für solche Parästhesien liegen, wissen wir zwar nicht, es ist aber bekannt, dass solche Parästhesien die partielle Epilepsie einleiten und die sensorische Epilepsie Charcot's ausmachen. Für die Zehenbewegungen wären symmetrische Rindenstellen in nächster Nähe der Medianspalte verantwortlich zu machen. Allein es klärte sich anders. Als ich mit dem Mädchen besser bekannt worden war, fragte ich sie einmal directe, was für Gedanken ihr bei solchen Anfällen kämen; sie solle sich nicht geniren, sie müsste wohl eine Erklärung für die beiden Erscheinungen geben können. Die Kranke wurde roth vor Scham und liess sich endlich ohne Hypnose zu folgenden Aufklärungen bewegen, deren Beziehung auf die Wirklichkeit von ihrer anwesenden Gesellschafterin

Beide, durch ihre Entstehungsgeschichte nahe verwandten Symptome, Schnalzen und Stottern, blieben auch fernerhin associirt und wurden durch eine Wiederholung bei einem ähnlichen Anlasse zu Dauersymptomen. Dann aber wurden sie einer weiteren Verwendung zugeführt. Unter heftigem Erschrecken entstanden, gesellten sie sich von nun an (nach dem Mechanismus der monosymptomatischen Hysterie, den ich bei Fall V aufzeigen werde) zu jedem Schreck hinzu, wenn derselbe auch nicht zum Objectiviren einer Contrastvorstellung Anlass geben konnte.

Sie waren endlich mit so vielen Traumen verknüpft, hatten soviel Recht, sich in der Erinnerung zu reproduciren, dass sie ohne weiteren Anlass nach Art eines sinnlosen Tick beständig die Rede unterbrachen. Die hypnotische Analyse konnte dann aber zeigen, wieviel Bedeutung sich hinter diesem scheinbaren Tick verberge, und wenn es der Breuer’schen Methode hier nicht gelang, beide Symptome mit einem Schlage vollständig zum Verschwinden zu bringen, so kam diess daher, dass die Katharsis nur auf die drei Haupttraumen und nicht auf die secundär associirten ausgedehnt wurde.1

1 Ich könnte hier den Eindruck erwecken, als legte ich den Details der Symptome zuviel Gewicht bei und verlöre mich in überflüssige Zeichendeuterei. Allein ich habe gelernt, dass die Determinirung der hysterischen Symptome wirklich bis in deren feinste Ausführung hinabreicht, und dass man ihnen nicht leicht zuviel Sinn unterlegen kann. Ich will ein Beispiel beibringen, das mich rechtfertigen wird. Vor Monaten behandelte ich ein 18jähriges Mädchen aus belasteter Familie, an dessen complicirter Neurose die Hysterie ihren gebührenden Antheil hatte. Das erste, was ich von ihr erfuhr, war die Klage über Anfälle von Verzweiflung mit zweierlei Inhalt. Bei den einen verspürte sie ein Ziehen und Prickeln in der unteren Gesichtspartie von den Wangen herab gegen den Mund; bei den anderen streckten sich die Zehen an beiden Füssen krampfhaft und spielten ruhelos hin und her. Ich war anfangs auch nicht geneigt, diesen Details viel Bedeutung beizumessen, und früheren Bearbeitern der Hysterie wäre es sicherlich nahe gelegen, in diesen Erscheinungen Beweise für die Reizung corticaler Centren beim hysterischen Anfall zu erblicken. Wo die Centren für solche Parästhesien liegen, wissen wir zwar nicht, es ist aber bekannt, dass solche Parästhesien die partielle Epilepsie einleiten und die sensorische Epilepsie Charcot’s ausmachen. Für die Zehenbewegungen wären symmetrische Rindenstellen in nächster Nähe der Medianspalte verantwortlich zu machen. Allein es klärte sich anders. Als ich mit dem Mädchen besser bekannt worden war, fragte ich sie einmal directe, was für Gedanken ihr bei solchen Anfällen kämen; sie solle sich nicht geniren, sie müsste wohl eine Erklärung für die beiden Erscheinungen geben können. Die Kranke wurde roth vor Scham und liess sich endlich ohne Hypnose zu folgenden Aufklärungen bewegen, deren Beziehung auf die Wirklichkeit von ihrer anwesenden Gesellschafterin
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            <p>Sie waren endlich mit so vielen Traumen verknüpft, hatten soviel Recht, sich in der Erinnerung zu reproduciren, dass sie ohne weiteren Anlass nach Art eines sinnlosen Tick beständig die Rede unterbrachen. Die hypnotische Analyse konnte dann aber zeigen, wieviel Bedeutung sich hinter diesem scheinbaren Tick verberge, und wenn es der <hi rendition="#g">Breuer</hi>&#x2019;schen Methode hier nicht gelang, beide Symptome mit einem Schlage vollständig zum Verschwinden zu bringen, so kam diess daher, dass die Katharsis nur auf die drei Haupttraumen und nicht auf die secundär associirten ausgedehnt wurde.<note place="foot" n="1"><p xml:id="p9" next="p10">Ich könnte hier den Eindruck erwecken, als legte ich den Details der Symptome zuviel Gewicht bei und verlöre mich in überflüssige Zeichendeuterei. Allein ich habe gelernt, dass die Determinirung der hysterischen Symptome wirklich bis in deren feinste Ausführung hinabreicht, und dass man ihnen nicht leicht zuviel Sinn unterlegen kann. Ich will ein Beispiel beibringen, das mich rechtfertigen wird. Vor Monaten behandelte ich ein 18jähriges Mädchen aus belasteter Familie, an dessen complicirter Neurose die Hysterie ihren gebührenden Antheil hatte. Das erste, was ich von ihr erfuhr, war die Klage über Anfälle von Verzweiflung mit zweierlei Inhalt. Bei den einen verspürte sie ein Ziehen und Prickeln in der unteren Gesichtspartie von den Wangen herab gegen den Mund; bei den anderen streckten sich die Zehen an beiden Füssen krampfhaft und spielten ruhelos hin und her. Ich war anfangs auch nicht geneigt, diesen Details viel Bedeutung beizumessen, und früheren Bearbeitern der Hysterie wäre es sicherlich nahe gelegen, in diesen Erscheinungen Beweise für die Reizung corticaler Centren beim hysterischen Anfall zu erblicken. Wo die Centren für solche Parästhesien liegen, wissen wir zwar nicht, es ist aber bekannt, dass solche Parästhesien die partielle Epilepsie einleiten und die sensorische Epilepsie Charcot&#x2019;s ausmachen. Für die Zehenbewegungen wären symmetrische Rindenstellen in nächster Nähe der Medianspalte verantwortlich zu machen. Allein es klärte sich anders. Als ich mit dem Mädchen besser bekannt worden war, fragte ich sie einmal directe, was für Gedanken ihr bei solchen Anfällen kämen; sie solle sich nicht geniren, sie müsste wohl eine Erklärung für die beiden Erscheinungen geben können. Die Kranke wurde roth vor Scham und liess sich endlich ohne Hypnose zu folgenden Aufklärungen bewegen, deren Beziehung auf die Wirklichkeit von ihrer anwesenden Gesellschafterin</p></note></p>
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[79/0085] Beide, durch ihre Entstehungsgeschichte nahe verwandten Symptome, Schnalzen und Stottern, blieben auch fernerhin associirt und wurden durch eine Wiederholung bei einem ähnlichen Anlasse zu Dauersymptomen. Dann aber wurden sie einer weiteren Verwendung zugeführt. Unter heftigem Erschrecken entstanden, gesellten sie sich von nun an (nach dem Mechanismus der monosymptomatischen Hysterie, den ich bei Fall V aufzeigen werde) zu jedem Schreck hinzu, wenn derselbe auch nicht zum Objectiviren einer Contrastvorstellung Anlass geben konnte. Sie waren endlich mit so vielen Traumen verknüpft, hatten soviel Recht, sich in der Erinnerung zu reproduciren, dass sie ohne weiteren Anlass nach Art eines sinnlosen Tick beständig die Rede unterbrachen. Die hypnotische Analyse konnte dann aber zeigen, wieviel Bedeutung sich hinter diesem scheinbaren Tick verberge, und wenn es der Breuer’schen Methode hier nicht gelang, beide Symptome mit einem Schlage vollständig zum Verschwinden zu bringen, so kam diess daher, dass die Katharsis nur auf die drei Haupttraumen und nicht auf die secundär associirten ausgedehnt wurde. 1 1 Ich könnte hier den Eindruck erwecken, als legte ich den Details der Symptome zuviel Gewicht bei und verlöre mich in überflüssige Zeichendeuterei. Allein ich habe gelernt, dass die Determinirung der hysterischen Symptome wirklich bis in deren feinste Ausführung hinabreicht, und dass man ihnen nicht leicht zuviel Sinn unterlegen kann. Ich will ein Beispiel beibringen, das mich rechtfertigen wird. Vor Monaten behandelte ich ein 18jähriges Mädchen aus belasteter Familie, an dessen complicirter Neurose die Hysterie ihren gebührenden Antheil hatte. Das erste, was ich von ihr erfuhr, war die Klage über Anfälle von Verzweiflung mit zweierlei Inhalt. Bei den einen verspürte sie ein Ziehen und Prickeln in der unteren Gesichtspartie von den Wangen herab gegen den Mund; bei den anderen streckten sich die Zehen an beiden Füssen krampfhaft und spielten ruhelos hin und her. Ich war anfangs auch nicht geneigt, diesen Details viel Bedeutung beizumessen, und früheren Bearbeitern der Hysterie wäre es sicherlich nahe gelegen, in diesen Erscheinungen Beweise für die Reizung corticaler Centren beim hysterischen Anfall zu erblicken. Wo die Centren für solche Parästhesien liegen, wissen wir zwar nicht, es ist aber bekannt, dass solche Parästhesien die partielle Epilepsie einleiten und die sensorische Epilepsie Charcot’s ausmachen. Für die Zehenbewegungen wären symmetrische Rindenstellen in nächster Nähe der Medianspalte verantwortlich zu machen. Allein es klärte sich anders. Als ich mit dem Mädchen besser bekannt worden war, fragte ich sie einmal directe, was für Gedanken ihr bei solchen Anfällen kämen; sie solle sich nicht geniren, sie müsste wohl eine Erklärung für die beiden Erscheinungen geben können. Die Kranke wurde roth vor Scham und liess sich endlich ohne Hypnose zu folgenden Aufklärungen bewegen, deren Beziehung auf die Wirklichkeit von ihrer anwesenden Gesellschafterin

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/85>, abgerufen am 28.04.2024.