Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

beschwichtigenden Worten, die ich an ihre Erzählung knüpfe, erklärt sie sich für erleichtert.

13. Mai. Sie hat wieder wenig geschlafen vor Magenschmerzen, gestern kein Nachtmahl genommen, klagt auch über Schmerzen im rechten Arm. Ihre Stimmung ist aber gut, sie ist heiter und behandelt mich seit gestern mit besonderer Auszeichnung. Sie fragt mich nach meinem Urtheil über die verschiedensten Dinge, die ihr wichtig erscheinen, und geräth in eine ganz unverhältnissmässige Erregung, wenn ich z. B. nach den Tüchern, die bei der Massage benöthigt werden, suchen muss und dgl. Schnalzen und Gesichtstick treten häufig auf.

Hypnose: Gestern abends ist ihr plötzlich der Grund eingefallen, weshalb kleine Thiere, die sie sehe, so in's Riesige wachsen. Das sei ihr das erste Mal in einer Theatervorstellung in D.. geschehen, wo eine riesig grosse Eidechse auf der Bühne war. Diese Erinnerung habe sie gestern auch so sehr gepeinigt.1

Dass das Schnalzen wiedergekehrt, rühre daher, dass sie gestern Unterleibsschmerzen gehabt und sich bemüht dieselben nicht durch Seufzer zu verrathen. Von dem eigentlichen Anlass des Schnalzens (vgl. p. 46) weiss sie nichts. Sie erinnert sich auch, dass ich ihr die Aufgabe gestellt herauszufinden, woher die Magenschmerzen stammen. Sie wisse es aber nicht, bittet mich, ihr zu helfen. Ich meine, ob sie sich nicht einmal nach grossen Aufregungen zum Essen genöthigt. Das trifft zu. Nach dem Tode ihres Mannes entbehrte sie eine lange Zeit hindurch jeder Esslust, ass nur aus Pflichtgefühl, und damals begannen wirklich die Magenschmerzen. - Ich nehme jetzt die Magenschmerzen durch einige Striche über das Epigastrium weg. Sie beginnt dann spontan von dem zu sprechen, was sie am meisten afficirt hat: "Ich habe gesagt, dass ich die Kleine nicht geliebt habe. Ich muss aber hinzufügen, dass man es an meinem Benehmen nicht merken konnte. Ich habe alles gethan, was nothwendig war. Ich mache mir jetzt noch Vorwürfe, dass ich die Aeltere lieber habe."

1 Das visuelle Erinnerungszeichen der grossen Eidechse war zu dieser Bedeutung gewiss nur durch das zeitliche Zusammentreffen mit einem grossen Affect gelangt, dem sie während jener Theatervorstellung unterlegen sein muss. Ich habe mich aber in der Therapie dieser Kranken, wie schon eingestanden, häufig mit den oberflächlichsten Ermittlungen begnügt und auch in diesem Falle nicht weiter nachgeforscht. - Man wird übrigens an die hysterische Makropsie erinnert. Frau Emmy war hochgradig kurzsichtig und astigmatisch, und ihre Hallucinationen mochten oft durch die Undeutlichkeit ihrer Gesichtswahrnehmungen provocirt worden sein.

beschwichtigenden Worten, die ich an ihre Erzählung knüpfe, erklärt sie sich für erleichtert.

13. Mai. Sie hat wieder wenig geschlafen vor Magenschmerzen, gestern kein Nachtmahl genommen, klagt auch über Schmerzen im rechten Arm. Ihre Stimmung ist aber gut, sie ist heiter und behandelt mich seit gestern mit besonderer Auszeichnung. Sie fragt mich nach meinem Urtheil über die verschiedensten Dinge, die ihr wichtig erscheinen, und geräth in eine ganz unverhältnissmässige Erregung, wenn ich z. B. nach den Tüchern, die bei der Massage benöthigt werden, suchen muss und dgl. Schnalzen und Gesichtstick treten häufig auf.

Hypnose: Gestern abends ist ihr plötzlich der Grund eingefallen, weshalb kleine Thiere, die sie sehe, so in’s Riesige wachsen. Das sei ihr das erste Mal in einer Theatervorstellung in D.. geschehen, wo eine riesig grosse Eidechse auf der Bühne war. Diese Erinnerung habe sie gestern auch so sehr gepeinigt.1

Dass das Schnalzen wiedergekehrt, rühre daher, dass sie gestern Unterleibsschmerzen gehabt und sich bemüht dieselben nicht durch Seufzer zu verrathen. Von dem eigentlichen Anlass des Schnalzens (vgl. p. 46) weiss sie nichts. Sie erinnert sich auch, dass ich ihr die Aufgabe gestellt herauszufinden, woher die Magenschmerzen stammen. Sie wisse es aber nicht, bittet mich, ihr zu helfen. Ich meine, ob sie sich nicht einmal nach grossen Aufregungen zum Essen genöthigt. Das trifft zu. Nach dem Tode ihres Mannes entbehrte sie eine lange Zeit hindurch jeder Esslust, ass nur aus Pflichtgefühl, und damals begannen wirklich die Magenschmerzen. – Ich nehme jetzt die Magenschmerzen durch einige Striche über das Epigastrium weg. Sie beginnt dann spontan von dem zu sprechen, was sie am meisten afficirt hat: „Ich habe gesagt, dass ich die Kleine nicht geliebt habe. Ich muss aber hinzufügen, dass man es an meinem Benehmen nicht merken konnte. Ich habe alles gethan, was nothwendig war. Ich mache mir jetzt noch Vorwürfe, dass ich die Aeltere lieber habe.“

1 Das visuelle Erinnerungszeichen der grossen Eidechse war zu dieser Bedeutung gewiss nur durch das zeitliche Zusammentreffen mit einem grossen Affect gelangt, dem sie während jener Theatervorstellung unterlegen sein muss. Ich habe mich aber in der Therapie dieser Kranken, wie schon eingestanden, häufig mit den oberflächlichsten Ermittlungen begnügt und auch in diesem Falle nicht weiter nachgeforscht. – Man wird übrigens an die hysterische Makropsie erinnert. Frau Emmy war hochgradig kurzsichtig und astigmatisch, und ihre Hallucinationen mochten oft durch die Undeutlichkeit ihrer Gesichtswahrnehmungen provocirt worden sein.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0058" n="52"/>
beschwichtigenden Worten, die ich an ihre Erzählung knüpfe, erklärt sie sich für erleichtert.</p>
          <p>13. <hi rendition="#g">Mai</hi>. Sie hat wieder wenig geschlafen vor Magenschmerzen, gestern kein Nachtmahl genommen, klagt auch über Schmerzen im rechten Arm. Ihre Stimmung ist aber gut, sie ist heiter und behandelt mich seit gestern mit besonderer Auszeichnung. Sie fragt mich nach meinem Urtheil über die verschiedensten Dinge, die ihr wichtig erscheinen, und geräth in eine ganz unverhältnissmässige Erregung, wenn ich z. B. nach den Tüchern, die bei der Massage benöthigt werden, suchen muss und dgl. Schnalzen und Gesichtstick treten häufig auf.</p>
          <p><hi rendition="#g">Hypnose</hi>: Gestern abends ist ihr plötzlich der Grund eingefallen, weshalb kleine Thiere, die sie sehe, so in&#x2019;s Riesige wachsen. Das sei ihr das erste Mal in einer Theatervorstellung in D.. geschehen, wo eine riesig grosse Eidechse auf der Bühne war. Diese Erinnerung habe sie gestern auch so sehr gepeinigt.<note place="foot" n="1">Das visuelle Erinnerungszeichen der grossen Eidechse war zu dieser Bedeutung gewiss nur durch das zeitliche Zusammentreffen mit einem grossen Affect gelangt, dem sie während jener Theatervorstellung unterlegen sein muss. Ich habe mich aber in der Therapie dieser Kranken, wie schon eingestanden, häufig mit den oberflächlichsten Ermittlungen begnügt und auch in diesem Falle nicht weiter nachgeforscht. &#x2013; Man wird übrigens an die hysterische Makropsie erinnert. Frau Emmy war hochgradig kurzsichtig und astigmatisch, und ihre Hallucinationen mochten oft durch die Undeutlichkeit ihrer Gesichtswahrnehmungen provocirt worden sein.</note></p>
          <p>Dass das Schnalzen wiedergekehrt, rühre daher, dass sie gestern Unterleibsschmerzen gehabt und sich bemüht dieselben nicht durch Seufzer zu verrathen. Von dem eigentlichen Anlass des Schnalzens (vgl. p. 46) weiss sie nichts. Sie erinnert sich auch, dass ich ihr die Aufgabe gestellt herauszufinden, woher die Magenschmerzen stammen. Sie wisse es aber nicht, bittet mich, ihr zu helfen. Ich meine, ob sie sich nicht einmal nach grossen Aufregungen zum Essen genöthigt. Das trifft zu. Nach dem Tode ihres Mannes entbehrte sie eine lange Zeit hindurch jeder Esslust, ass nur aus Pflichtgefühl, und damals begannen wirklich die Magenschmerzen. &#x2013; Ich nehme jetzt die Magenschmerzen durch einige Striche über das Epigastrium weg. Sie beginnt dann spontan von dem zu sprechen, was sie am meisten afficirt hat: &#x201E;Ich habe gesagt, dass ich die Kleine nicht geliebt habe. Ich muss aber hinzufügen, dass man es an meinem Benehmen nicht merken konnte. Ich habe alles gethan, was nothwendig war. Ich mache mir jetzt noch Vorwürfe, dass ich die Aeltere lieber habe.&#x201C;</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[52/0058] beschwichtigenden Worten, die ich an ihre Erzählung knüpfe, erklärt sie sich für erleichtert. 13. Mai. Sie hat wieder wenig geschlafen vor Magenschmerzen, gestern kein Nachtmahl genommen, klagt auch über Schmerzen im rechten Arm. Ihre Stimmung ist aber gut, sie ist heiter und behandelt mich seit gestern mit besonderer Auszeichnung. Sie fragt mich nach meinem Urtheil über die verschiedensten Dinge, die ihr wichtig erscheinen, und geräth in eine ganz unverhältnissmässige Erregung, wenn ich z. B. nach den Tüchern, die bei der Massage benöthigt werden, suchen muss und dgl. Schnalzen und Gesichtstick treten häufig auf. Hypnose: Gestern abends ist ihr plötzlich der Grund eingefallen, weshalb kleine Thiere, die sie sehe, so in’s Riesige wachsen. Das sei ihr das erste Mal in einer Theatervorstellung in D.. geschehen, wo eine riesig grosse Eidechse auf der Bühne war. Diese Erinnerung habe sie gestern auch so sehr gepeinigt. 1 Dass das Schnalzen wiedergekehrt, rühre daher, dass sie gestern Unterleibsschmerzen gehabt und sich bemüht dieselben nicht durch Seufzer zu verrathen. Von dem eigentlichen Anlass des Schnalzens (vgl. p. 46) weiss sie nichts. Sie erinnert sich auch, dass ich ihr die Aufgabe gestellt herauszufinden, woher die Magenschmerzen stammen. Sie wisse es aber nicht, bittet mich, ihr zu helfen. Ich meine, ob sie sich nicht einmal nach grossen Aufregungen zum Essen genöthigt. Das trifft zu. Nach dem Tode ihres Mannes entbehrte sie eine lange Zeit hindurch jeder Esslust, ass nur aus Pflichtgefühl, und damals begannen wirklich die Magenschmerzen. – Ich nehme jetzt die Magenschmerzen durch einige Striche über das Epigastrium weg. Sie beginnt dann spontan von dem zu sprechen, was sie am meisten afficirt hat: „Ich habe gesagt, dass ich die Kleine nicht geliebt habe. Ich muss aber hinzufügen, dass man es an meinem Benehmen nicht merken konnte. Ich habe alles gethan, was nothwendig war. Ich mache mir jetzt noch Vorwürfe, dass ich die Aeltere lieber habe.“ 1 Das visuelle Erinnerungszeichen der grossen Eidechse war zu dieser Bedeutung gewiss nur durch das zeitliche Zusammentreffen mit einem grossen Affect gelangt, dem sie während jener Theatervorstellung unterlegen sein muss. Ich habe mich aber in der Therapie dieser Kranken, wie schon eingestanden, häufig mit den oberflächlichsten Ermittlungen begnügt und auch in diesem Falle nicht weiter nachgeforscht. – Man wird übrigens an die hysterische Makropsie erinnert. Frau Emmy war hochgradig kurzsichtig und astigmatisch, und ihre Hallucinationen mochten oft durch die Undeutlichkeit ihrer Gesichtswahrnehmungen provocirt worden sein.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/58
Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/58>, abgerufen am 28.04.2024.