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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Wie sie in einem Orte an der Riviera, den sie beide sehr liebten, einst über eine Brücke gegangen und er von einem Herzkrampf ergriffen, plötzlich umsank, einige Minuten wie leblos dalag, dann aber wohlbehalten aufstand. Wie dann kurze Zeit darauf, als sie im Wochenbett mit der Kleinen lag, der Mann, der an einem kleinen Tisch vor ihrem Bett frühstückte und die Zeitung las, plötzlich aufstand, sie so eigenthümlich ansah, einige Schritte machte und dann todt zu Boden fiel. Sie sei aus dem Bette; die herbeigeholten Aerzte hätten Belebungsversuche gemacht, die sie aus dem anderen Zimmer mitangehört; aber es sei vergebens gewesen. Sie fährt dann fort: Und wie das Kind, das damals einige Wochen alt war, so krank geworden und durch 6 Monate krank geblieben sei, während welcher Zeit sie selbst mit heftigem Fieber bettlägerig war; - und nun folgen chronologisch geordnet ihre Beschwerden gegen dieses Kind, die mit ärgerlichem Gesichtsausdruck rasch hervorgestossen werden, wie wenn man von jemandem spricht, dessen man überdrüssig geworden ist. Es sei lange Zeit sehr eigenthümlich gewesen, hätte immer geschrien und nicht geschlafen, eine Lähmung des linken Beines bekommen, an deren Heilung man fast verzweifelte; mit 4 Jahren habe es Visionen gehabt, sei erst spät gegangen und habe spät gesprochen, so dass man es lange für idiotisch hielt; es habe nach der Aussage der Aerzte Gehirn- und Rückenmarksentzündung gehabt, und was nicht alles sonst. Ich unterbreche sie hier, weise darauf hin, dass dieses selbe Kind heute normal und blühend sei, und nehme ihr die Möglichkeit, alle diese traurigen Dinge wieder zu sehen, indem ich nicht nur die plastische Erinnerung verlösche, sondern die ganze Reminiscenz aus ihrem Gedächtniss löse, als ob sie nie darin gewesen wäre. Ich verspreche ihr davon das Aufhören der Unglückserwartung, die sie beständig quält, und der Schmerzen im ganzen Körper, über die sie gerade während der Erzählung geklagt hatte, nachdem mehrere Tage von ihnen nicht die Rede gewesen war.1

1 Ich bin diesmal in meiner Energie wohl zu weit gegangen. Noch 11/2 Jahre später, als ich Frau Emmy in relativ hohem Wohlbefinden wiedersah, klagte sie mir, es sei merkwürdig, dass sie sich an gewisse, sehr wichtige Momente ihres Lebens nur höchst ungenau erinnern könne. Sie sah darin einen Beweis für die Abnahme ihres Gedächtnisses, während ich mich hüten musste, ihr die Erklärung für diese specielle Amnesie zu geben. Der durchschlagende Erfolg der Therapie in diesem Punkte rührte wohl auch daher, dass ich mir diese Erinnerung so ausführlich erzählen liess (weit ausführlicher, als es die Notizen bewahrt haben), während ich mich sonst zu oft mit blossen Erwähnungen begnügte.

Wie sie in einem Orte an der Riviera, den sie beide sehr liebten, einst über eine Brücke gegangen und er von einem Herzkrampf ergriffen, plötzlich umsank, einige Minuten wie leblos dalag, dann aber wohlbehalten aufstand. Wie dann kurze Zeit darauf, als sie im Wochenbett mit der Kleinen lag, der Mann, der an einem kleinen Tisch vor ihrem Bett frühstückte und die Zeitung las, plötzlich aufstand, sie so eigenthümlich ansah, einige Schritte machte und dann todt zu Boden fiel. Sie sei aus dem Bette; die herbeigeholten Aerzte hätten Belebungsversuche gemacht, die sie aus dem anderen Zimmer mitangehört; aber es sei vergebens gewesen. Sie fährt dann fort: Und wie das Kind, das damals einige Wochen alt war, so krank geworden und durch 6 Monate krank geblieben sei, während welcher Zeit sie selbst mit heftigem Fieber bettlägerig war; – und nun folgen chronologisch geordnet ihre Beschwerden gegen dieses Kind, die mit ärgerlichem Gesichtsausdruck rasch hervorgestossen werden, wie wenn man von jemandem spricht, dessen man überdrüssig geworden ist. Es sei lange Zeit sehr eigenthümlich gewesen, hätte immer geschrien und nicht geschlafen, eine Lähmung des linken Beines bekommen, an deren Heilung man fast verzweifelte; mit 4 Jahren habe es Visionen gehabt, sei erst spät gegangen und habe spät gesprochen, so dass man es lange für idiotisch hielt; es habe nach der Aussage der Aerzte Gehirn- und Rückenmarksentzündung gehabt, und was nicht alles sonst. Ich unterbreche sie hier, weise darauf hin, dass dieses selbe Kind heute normal und blühend sei, und nehme ihr die Möglichkeit, alle diese traurigen Dinge wieder zu sehen, indem ich nicht nur die plastische Erinnerung verlösche, sondern die ganze Reminiscenz aus ihrem Gedächtniss löse, als ob sie nie darin gewesen wäre. Ich verspreche ihr davon das Aufhören der Unglückserwartung, die sie beständig quält, und der Schmerzen im ganzen Körper, über die sie gerade während der Erzählung geklagt hatte, nachdem mehrere Tage von ihnen nicht die Rede gewesen war.1

1 Ich bin diesmal in meiner Energie wohl zu weit gegangen. Noch 1½ Jahre später, als ich Frau Emmy in relativ hohem Wohlbefinden wiedersah, klagte sie mir, es sei merkwürdig, dass sie sich an gewisse, sehr wichtige Momente ihres Lebens nur höchst ungenau erinnern könne. Sie sah darin einen Beweis für die Abnahme ihres Gedächtnisses, während ich mich hüten musste, ihr die Erklärung für diese specielle Amnesie zu geben. Der durchschlagende Erfolg der Therapie in diesem Punkte rührte wohl auch daher, dass ich mir diese Erinnerung so ausführlich erzählen liess (weit ausführlicher, als es die Notizen bewahrt haben), während ich mich sonst zu oft mit blossen Erwähnungen begnügte.
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[49/0055] Wie sie in einem Orte an der Riviera, den sie beide sehr liebten, einst über eine Brücke gegangen und er von einem Herzkrampf ergriffen, plötzlich umsank, einige Minuten wie leblos dalag, dann aber wohlbehalten aufstand. Wie dann kurze Zeit darauf, als sie im Wochenbett mit der Kleinen lag, der Mann, der an einem kleinen Tisch vor ihrem Bett frühstückte und die Zeitung las, plötzlich aufstand, sie so eigenthümlich ansah, einige Schritte machte und dann todt zu Boden fiel. Sie sei aus dem Bette; die herbeigeholten Aerzte hätten Belebungsversuche gemacht, die sie aus dem anderen Zimmer mitangehört; aber es sei vergebens gewesen. Sie fährt dann fort: Und wie das Kind, das damals einige Wochen alt war, so krank geworden und durch 6 Monate krank geblieben sei, während welcher Zeit sie selbst mit heftigem Fieber bettlägerig war; – und nun folgen chronologisch geordnet ihre Beschwerden gegen dieses Kind, die mit ärgerlichem Gesichtsausdruck rasch hervorgestossen werden, wie wenn man von jemandem spricht, dessen man überdrüssig geworden ist. Es sei lange Zeit sehr eigenthümlich gewesen, hätte immer geschrien und nicht geschlafen, eine Lähmung des linken Beines bekommen, an deren Heilung man fast verzweifelte; mit 4 Jahren habe es Visionen gehabt, sei erst spät gegangen und habe spät gesprochen, so dass man es lange für idiotisch hielt; es habe nach der Aussage der Aerzte Gehirn- und Rückenmarksentzündung gehabt, und was nicht alles sonst. Ich unterbreche sie hier, weise darauf hin, dass dieses selbe Kind heute normal und blühend sei, und nehme ihr die Möglichkeit, alle diese traurigen Dinge wieder zu sehen, indem ich nicht nur die plastische Erinnerung verlösche, sondern die ganze Reminiscenz aus ihrem Gedächtniss löse, als ob sie nie darin gewesen wäre. Ich verspreche ihr davon das Aufhören der Unglückserwartung, die sie beständig quält, und der Schmerzen im ganzen Körper, über die sie gerade während der Erzählung geklagt hatte, nachdem mehrere Tage von ihnen nicht die Rede gewesen war. 1 1 Ich bin diesmal in meiner Energie wohl zu weit gegangen. Noch 1½ Jahre später, als ich Frau Emmy in relativ hohem Wohlbefinden wiedersah, klagte sie mir, es sei merkwürdig, dass sie sich an gewisse, sehr wichtige Momente ihres Lebens nur höchst ungenau erinnern könne. Sie sah darin einen Beweis für die Abnahme ihres Gedächtnisses, während ich mich hüten musste, ihr die Erklärung für diese specielle Amnesie zu geben. Der durchschlagende Erfolg der Therapie in diesem Punkte rührte wohl auch daher, dass ich mir diese Erinnerung so ausführlich erzählen liess (weit ausführlicher, als es die Notizen bewahrt haben), während ich mich sonst zu oft mit blossen Erwähnungen begnügte.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/55>, abgerufen am 28.04.2024.