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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Gruppe hysterischer Erscheinungen, welche diesen Ursprung haben, mit Freud als hysterische Retentionsphänomene bezeichnen.

Die bisherige Darlegung des psychischen Entstehungsmechanismus hysterischer Phänomene steht dem Vorwurf offen, dass sie schematisire und den Vorgang einfacher darstelle, als er in Wirklichkeit ist. Damit sich bei einem gesunden, nicht originär neuropathischen Menschen ein richtiges hysterisches Symptom ausbilde, mit seiner scheinbaren Unabhängigkeit von der Psyche, seiner selbständigen somatischen Existenz, müssen fast immer mehrfache Umstände concurriren.

Der folgende Fall mag als Beispiel dieser Complicirtheit des Vorganges dienen: Ein 12jähriger Knabe, früher an Pavor nocturnus leidend und Sohn eines sehr nervösen Vaters, kam eines Tages unwohl aus der Schule. Er klagte über Schlingbeschwerden, d. h. er konnte nur mit Schwierigkeit schlucken, und über Kopfschmerz. Der Hausarzt nahm eine Angina als Ursache an. Aber auch nach mehreren Tagen besserte sich der Zustand nicht. Der Junge wollte nicht essen, erbrach, als man ihn dazu verhielt, schleppte sich müde und lustlos herum, wollte immer zu Bett liegen und kam körperlich sehr herab. Als ich ihn nach 5 Wochen sah, machte er den Eindruck eines scheuen, verschlossenen Kindes, und ich gewann die Ueberzeugung, der Zustand habe eine psychische Begründung. Auf drängende Prägen gab er eine banale Ursache an, einen strengen Verweis des Vaters, der offenbar nicht die wirkliche Grundlage der Erkrankung war. Auch aus der Schule war nichts zu erfahren. Ich versprach, später in der Hypnose die Mittheilung zu erzwingen. Doch das wurde unnöthig. Als ihn die kluge und energische Mutter einmal hart anliess, begann er unter einem Thränenstrom zu erzählen. Er war damals auf dem Heimweg von der Schule in ein Pissoir getreten, und dort hatte ihm ein Mann den Penis hingehalten mit der Aufforderung, ihn in den Mund zu nehmen. Er war voll Schreck weggelaufen, und es war ihm sonst nichts geschehen. Aber von dem Augenblick an war er krank. Von dem Moment der Beichte an wich der Zustand völliger Gesundheit. - Um das Phänomen der Anorexie, der Schlingbeschwerden, des Erbrechens zu erzeugen, brauchte es hier mehrerer Factoren: die angeborene nervöse Artung, den Schreck, das Hereinbrechen des Sexualen in seiner brutalsten Form in das Kindergemüth, und als determinirendes Moment die Ekelvorstellung. Ihre Dauer verdankte die Erkrankung dem Verschweigen, wodurch der Erregung die normale Abfuhr versagt wurde.

So wie in diesem Fall, so müssen immer mehrere Factoren zusammenwirken, damit bei einem bisher Gesunden ein hysterisches Symptom sich bilde; dieses ist immer "überdeterminirt" nach dem Ausdrucke Freud's.

Als solche Ueberdeterminirung kann es auch gelten, wenn derselbe Affect durch mehrere, wiederholte Anlässe hervorgerufen wird. Der Kranke und die Umgebung beziehen das hysterische Symptom nur auf den letzten Anlass, der aber meist nur zur Erscheinung gebracht hat, was durch andere Traumen schon fast vollständig geleistet war.

Gruppe hysterischer Erscheinungen, welche diesen Ursprung haben, mit Freud als hysterische Retentionsphänomene bezeichnen.

Die bisherige Darlegung des psychischen Entstehungsmechanismus hysterischer Phänomene steht dem Vorwurf offen, dass sie schematisire und den Vorgang einfacher darstelle, als er in Wirklichkeit ist. Damit sich bei einem gesunden, nicht originär neuropathischen Menschen ein richtiges hysterisches Symptom ausbilde, mit seiner scheinbaren Unabhängigkeit von der Psyche, seiner selbständigen somatischen Existenz, müssen fast immer mehrfache Umstände concurriren.

Der folgende Fall mag als Beispiel dieser Complicirtheit des Vorganges dienen: Ein 12jähriger Knabe, früher an Pavor nocturnus leidend und Sohn eines sehr nervösen Vaters, kam eines Tages unwohl aus der Schule. Er klagte über Schlingbeschwerden, d. h. er konnte nur mit Schwierigkeit schlucken, und über Kopfschmerz. Der Hausarzt nahm eine Angina als Ursache an. Aber auch nach mehreren Tagen besserte sich der Zustand nicht. Der Junge wollte nicht essen, erbrach, als man ihn dazu verhielt, schleppte sich müde und lustlos herum, wollte immer zu Bett liegen und kam körperlich sehr herab. Als ich ihn nach 5 Wochen sah, machte er den Eindruck eines scheuen, verschlossenen Kindes, und ich gewann die Ueberzeugung, der Zustand habe eine psychische Begründung. Auf drängende Prägen gab er eine banale Ursache an, einen strengen Verweis des Vaters, der offenbar nicht die wirkliche Grundlage der Erkrankung war. Auch aus der Schule war nichts zu erfahren. Ich versprach, später in der Hypnose die Mittheilung zu erzwingen. Doch das wurde unnöthig. Als ihn die kluge und energische Mutter einmal hart anliess, begann er unter einem Thränenstrom zu erzählen. Er war damals auf dem Heimweg von der Schule in ein Pissoir getreten, und dort hatte ihm ein Mann den Penis hingehalten mit der Aufforderung, ihn in den Mund zu nehmen. Er war voll Schreck weggelaufen, und es war ihm sonst nichts geschehen. Aber von dem Augenblick an war er krank. Von dem Moment der Beichte an wich der Zustand völliger Gesundheit. – Um das Phänomen der Anorexie, der Schlingbeschwerden, des Erbrechens zu erzeugen, brauchte es hier mehrerer Factoren: die angeborene nervöse Artung, den Schreck, das Hereinbrechen des Sexualen in seiner brutalsten Form in das Kindergemüth, und als determinirendes Moment die Ekelvorstellung. Ihre Dauer verdankte die Erkrankung dem Verschweigen, wodurch der Erregung die normale Abfuhr versagt wurde.

So wie in diesem Fall, so müssen immer mehrere Factoren zusammenwirken, damit bei einem bisher Gesunden ein hysterisches Symptom sich bilde; dieses ist immer „überdeterminirt“ nach dem Ausdrucke Freud's.

Als solche Ueberdeterminirung kann es auch gelten, wenn derselbe Affect durch mehrere, wiederholte Anlässe hervorgerufen wird. Der Kranke und die Umgebung beziehen das hysterische Symptom nur auf den letzten Anlass, der aber meist nur zur Erscheinung gebracht hat, was durch andere Traumen schon fast vollständig geleistet war.

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[185/0191] Gruppe hysterischer Erscheinungen, welche diesen Ursprung haben, mit Freud als hysterische Retentionsphänomene bezeichnen. Die bisherige Darlegung des psychischen Entstehungsmechanismus hysterischer Phänomene steht dem Vorwurf offen, dass sie schematisire und den Vorgang einfacher darstelle, als er in Wirklichkeit ist. Damit sich bei einem gesunden, nicht originär neuropathischen Menschen ein richtiges hysterisches Symptom ausbilde, mit seiner scheinbaren Unabhängigkeit von der Psyche, seiner selbständigen somatischen Existenz, müssen fast immer mehrfache Umstände concurriren. Der folgende Fall mag als Beispiel dieser Complicirtheit des Vorganges dienen: Ein 12jähriger Knabe, früher an Pavor nocturnus leidend und Sohn eines sehr nervösen Vaters, kam eines Tages unwohl aus der Schule. Er klagte über Schlingbeschwerden, d. h. er konnte nur mit Schwierigkeit schlucken, und über Kopfschmerz. Der Hausarzt nahm eine Angina als Ursache an. Aber auch nach mehreren Tagen besserte sich der Zustand nicht. Der Junge wollte nicht essen, erbrach, als man ihn dazu verhielt, schleppte sich müde und lustlos herum, wollte immer zu Bett liegen und kam körperlich sehr herab. Als ich ihn nach 5 Wochen sah, machte er den Eindruck eines scheuen, verschlossenen Kindes, und ich gewann die Ueberzeugung, der Zustand habe eine psychische Begründung. Auf drängende Prägen gab er eine banale Ursache an, einen strengen Verweis des Vaters, der offenbar nicht die wirkliche Grundlage der Erkrankung war. Auch aus der Schule war nichts zu erfahren. Ich versprach, später in der Hypnose die Mittheilung zu erzwingen. Doch das wurde unnöthig. Als ihn die kluge und energische Mutter einmal hart anliess, begann er unter einem Thränenstrom zu erzählen. Er war damals auf dem Heimweg von der Schule in ein Pissoir getreten, und dort hatte ihm ein Mann den Penis hingehalten mit der Aufforderung, ihn in den Mund zu nehmen. Er war voll Schreck weggelaufen, und es war ihm sonst nichts geschehen. Aber von dem Augenblick an war er krank. Von dem Moment der Beichte an wich der Zustand völliger Gesundheit. – Um das Phänomen der Anorexie, der Schlingbeschwerden, des Erbrechens zu erzeugen, brauchte es hier mehrerer Factoren: die angeborene nervöse Artung, den Schreck, das Hereinbrechen des Sexualen in seiner brutalsten Form in das Kindergemüth, und als determinirendes Moment die Ekelvorstellung. Ihre Dauer verdankte die Erkrankung dem Verschweigen, wodurch der Erregung die normale Abfuhr versagt wurde. So wie in diesem Fall, so müssen immer mehrere Factoren zusammenwirken, damit bei einem bisher Gesunden ein hysterisches Symptom sich bilde; dieses ist immer „überdeterminirt“ nach dem Ausdrucke Freud's. Als solche Ueberdeterminirung kann es auch gelten, wenn derselbe Affect durch mehrere, wiederholte Anlässe hervorgerufen wird. Der Kranke und die Umgebung beziehen das hysterische Symptom nur auf den letzten Anlass, der aber meist nur zur Erscheinung gebracht hat, was durch andere Traumen schon fast vollständig geleistet war.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/191>, abgerufen am 27.04.2024.