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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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solange dieser sich nicht vollzogen hat, besteht die peinliche gesteigerte Erregung.

Die intracerebrale Erregung und der Erregungsvorgang in peripheren Bahnen sind reciproke Grössen; die erstere wächst, wenn und solange ein Reflex nicht ausgelöst wird, sie sinkt und schwindet, wenn sie sich in periphere Nervenerregung umgesetzt hat. So scheint es auch nicht unverständlich, dass kein merkbarer Affect entsteht, wenn die Vorstellung, welche ihn veranlassen sollte, unmittelbar einen abnormen Reflex auslöst, und in diesem die entstehende Erregung sogleich abströmt. Die "hysterische Conversion" ist dann vollständig; die ursprünglich intracerebrale Erregung des Affectes ist in den Erregungsvorgang peripherer Bahnen umgewandelt worden; die ursprünglich affective Vorstellung ruft jetzt nicht mehr den Affect, sondern nur den abnormen Reflex hervor.1

Wir sind damit einen Schritt weitergekommen, über den "abnormen Ausdruck der Gemüthsbewegungen" hinaus. Das hysterische Phänomen (abnormer Reflex) erscheint auch intelligenten und gut beobachtenden Kranken nicht als ideogen, weil die veranlassende Vorstellung nicht mehr affectiv betont und nicht mehr vor anderen Vorstellungen und Erinnerungen ausgezeichnet ist; es erscheint als rein somatisches Phänomen, scheinbar ohne psychologische Wurzel.



Wodurch wird nun die Entladung der Affecterregung determinirt, so dass eben der eine abnorme Reflex geschaffen wird und nicht irgend ein beliebiger anderer? Unsere Beobachtungen beantworten diese Frage für viele Fälle dahin, dass auch diese Entladung dem "Princip des geringsten Widerstandes" folgt und auf jenen Bahnen geschieht, deren Widerstände schon durch concurrirende Umstände herabgesetzt worden sind. Dahin gehört der schon früher besprochene Fall, dass ein bestimmter Reflex durch somatische Krankheit bereits gebahnt ist; z. B. wenn jemand oft an Cardialgien leidet, wird diese auch durch

1 Ich möchte den Vergleich mit einer elektrischen Anlage nicht zu Tode hetzen; bei der fundamentalen Verschiedenartigkeit der Verhältnisse kann er ja die Vorgänge im Nervensystem kaum illustriren und gewiss nicht erklären. Aber hier mag noch an den Fall erinnert werden, dass durch hohe Spannung die Isolation der Leitung einer Beleuchtungsanlage gelitten habe und an einer Stelle ein "kurzer Schluss" hergestellt sei. Treten nun an dieser Stelle elektrische Phänomene auf (Erwärmung, z. B. kurze Funken o. dgl.), so leuchtet die Lampe nicht, zu welcher die Leitung führt; wie der Affect nicht entsteht, wenn die Erregung als abnormer Reflex abströmt, in ein somatisches Phänomen convertirt wird.

solange dieser sich nicht vollzogen hat, besteht die peinliche gesteigerte Erregung.

Die intracerebrale Erregung und der Erregungsvorgang in peripheren Bahnen sind reciproke Grössen; die erstere wächst, wenn und solange ein Reflex nicht ausgelöst wird, sie sinkt und schwindet, wenn sie sich in periphere Nervenerregung umgesetzt hat. So scheint es auch nicht unverständlich, dass kein merkbarer Affect entsteht, wenn die Vorstellung, welche ihn veranlassen sollte, unmittelbar einen abnormen Reflex auslöst, und in diesem die entstehende Erregung sogleich abströmt. Die „hysterische Conversion“ ist dann vollständig; die ursprünglich intracerebrale Erregung des Affectes ist in den Erregungsvorgang peripherer Bahnen umgewandelt worden; die ursprünglich affective Vorstellung ruft jetzt nicht mehr den Affect, sondern nur den abnormen Reflex hervor.1

Wir sind damit einen Schritt weitergekommen, über den „abnormen Ausdruck der Gemüthsbewegungen“ hinaus. Das hysterische Phänomen (abnormer Reflex) erscheint auch intelligenten und gut beobachtenden Kranken nicht als ideogen, weil die veranlassende Vorstellung nicht mehr affectiv betont und nicht mehr vor anderen Vorstellungen und Erinnerungen ausgezeichnet ist; es erscheint als rein somatisches Phänomen, scheinbar ohne psychologische Wurzel.



Wodurch wird nun die Entladung der Affecterregung determinirt, so dass eben der eine abnorme Reflex geschaffen wird und nicht irgend ein beliebiger anderer? Unsere Beobachtungen beantworten diese Frage für viele Fälle dahin, dass auch diese Entladung dem „Princip des geringsten Widerstandes“ folgt und auf jenen Bahnen geschieht, deren Widerstände schon durch concurrirende Umstände herabgesetzt worden sind. Dahin gehört der schon früher besprochene Fall, dass ein bestimmter Reflex durch somatische Krankheit bereits gebahnt ist; z. B. wenn jemand oft an Cardialgien leidet, wird diese auch durch

1 Ich möchte den Vergleich mit einer elektrischen Anlage nicht zu Tode hetzen; bei der fundamentalen Verschiedenartigkeit der Verhältnisse kann er ja die Vorgänge im Nervensystem kaum illustriren und gewiss nicht erklären. Aber hier mag noch an den Fall erinnert werden, dass durch hohe Spannung die Isolation der Leitung einer Beleuchtungsanlage gelitten habe und an einer Stelle ein „kurzer Schluss“ hergestellt sei. Treten nun an dieser Stelle elektrische Phänomene auf (Erwärmung, z. B. kurze Funken o. dgl.), so leuchtet die Lampe nicht, zu welcher die Leitung führt; wie der Affect nicht entsteht, wenn die Erregung als abnormer Reflex abströmt, in ein somatisches Phänomen convertirt wird.
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[181/0187] solange dieser sich nicht vollzogen hat, besteht die peinliche gesteigerte Erregung. Die intracerebrale Erregung und der Erregungsvorgang in peripheren Bahnen sind reciproke Grössen; die erstere wächst, wenn und solange ein Reflex nicht ausgelöst wird, sie sinkt und schwindet, wenn sie sich in periphere Nervenerregung umgesetzt hat. So scheint es auch nicht unverständlich, dass kein merkbarer Affect entsteht, wenn die Vorstellung, welche ihn veranlassen sollte, unmittelbar einen abnormen Reflex auslöst, und in diesem die entstehende Erregung sogleich abströmt. Die „hysterische Conversion“ ist dann vollständig; die ursprünglich intracerebrale Erregung des Affectes ist in den Erregungsvorgang peripherer Bahnen umgewandelt worden; die ursprünglich affective Vorstellung ruft jetzt nicht mehr den Affect, sondern nur den abnormen Reflex hervor. 1 Wir sind damit einen Schritt weitergekommen, über den „abnormen Ausdruck der Gemüthsbewegungen“ hinaus. Das hysterische Phänomen (abnormer Reflex) erscheint auch intelligenten und gut beobachtenden Kranken nicht als ideogen, weil die veranlassende Vorstellung nicht mehr affectiv betont und nicht mehr vor anderen Vorstellungen und Erinnerungen ausgezeichnet ist; es erscheint als rein somatisches Phänomen, scheinbar ohne psychologische Wurzel. Wodurch wird nun die Entladung der Affecterregung determinirt, so dass eben der eine abnorme Reflex geschaffen wird und nicht irgend ein beliebiger anderer? Unsere Beobachtungen beantworten diese Frage für viele Fälle dahin, dass auch diese Entladung dem „Princip des geringsten Widerstandes“ folgt und auf jenen Bahnen geschieht, deren Widerstände schon durch concurrirende Umstände herabgesetzt worden sind. Dahin gehört der schon früher besprochene Fall, dass ein bestimmter Reflex durch somatische Krankheit bereits gebahnt ist; z. B. wenn jemand oft an Cardialgien leidet, wird diese auch durch 1 Ich möchte den Vergleich mit einer elektrischen Anlage nicht zu Tode hetzen; bei der fundamentalen Verschiedenartigkeit der Verhältnisse kann er ja die Vorgänge im Nervensystem kaum illustriren und gewiss nicht erklären. Aber hier mag noch an den Fall erinnert werden, dass durch hohe Spannung die Isolation der Leitung einer Beleuchtungsanlage gelitten habe und an einer Stelle ein „kurzer Schluss“ hergestellt sei. Treten nun an dieser Stelle elektrische Phänomene auf (Erwärmung, z. B. kurze Funken o. dgl.), so leuchtet die Lampe nicht, zu welcher die Leitung führt; wie der Affect nicht entsteht, wenn die Erregung als abnormer Reflex abströmt, in ein somatisches Phänomen convertirt wird.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/187>, abgerufen am 27.04.2024.