Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

so drängt die Erinnerung immer wieder die scheltenden Worten auf die Lippen, welche damals unterdrückt wurden, und welche der psychische Reflex jenes Reizes gewesen wären.

Hat sich der ursprüngliche Affect nicht in dem normalen, sondern in einem "abnormen Reflex" entladen, so wird auch dieser durch die Erinnerung wieder ausgelöst; die von der affectiven Vorstellung ausgehende Erregung wird in ein körperliches Phänomen "convertirt". (Freud.)

Ist durch oftmalige Wiederholung dieser abnorme Reflex vollständig gebahnt worden, so kann sich, wie es scheint, die Wirksamkeit der auslösenden Vorstellungen darin so vollständig erschöpfen, dass der Affect selbst nur in minimaler Stärke oder gar nicht entsteht; dann ist die "hysterische Conversion" vollständig. Die Vorstellung aber, welche nun nicht mehr psychische Wirkungen hat, kann von dem Individuum übersehen oder ihr Auftauchen alsbald wieder vergessen werden, wie es bei andern affectlosen Vorstellungen geschieht.

Ein solches Ersetzen der cerebralen Erregung, welche eine Vorstellung bedingen sollte, durch eine Erregung peripherer Bahnen wird vielleicht annehmbarer durch die Erinnerung an das umgekehrte Verhalten beim Ausbleiben eines präformirten Reflexes. Ich wähle ein höchst triviales Beispiel, den Niessreflex. Wenn ein Reiz auf der Nasenschleimhaut diesen präformirten Reflex aus irgend einem Grunde nicht auslöst, so entsteht bekanntermaassen ein Gefühl von Erregung und Spannung. Es ist die Erregung, welche auf den motorischen Bahnen nicht abströmen kann und nun, jede andere Thätigkeit hemmend, über das Gehirn sich verbreitet. Dieses banalste Beispiel bietet doch das Schema für den Vorgang beim Ausbleiben auch der complicirtesten psychischen Reflexe. Die oben besprochene Aufregung des Rachetriebes ist wesentlich dasselbe; und bis in die höchsten Sphären menschlicher Leistungen können wir den Process verfolgen. Goethe wird mit einem Erlebniss nicht fertig, bis er es in dichterischer Thätigkeit erledigt hat. Bei ihm ist dies der präformirte Reflex eines Affectes, und

Erinnerung immer wieder ausgelöst, und es entsteht der "Rachetrieb" als irrationaler Willensimpuls wie alle "Triebe". Beweis hiefür ist eben seine Irrationalität, seine Unabhängigkeit von allem Nutzen und aller Zweckmässigkeit; ja sein Sieg über alle Rücksichten der eigenen Sicherheit. Sobald der Reflex ausgelöst worden ist, kann diese Irrationalität in's Bewusstsein treten.
"Ein anderes Antlitz, bevor sie geschehen,
Ein anderes trägt die vollbrachte That."

so drängt die Erinnerung immer wieder die scheltenden Worten auf die Lippen, welche damals unterdrückt wurden, und welche der psychische Reflex jenes Reizes gewesen wären.

Hat sich der ursprüngliche Affect nicht in dem normalen, sondern in einem „abnormen Reflex“ entladen, so wird auch dieser durch die Erinnerung wieder ausgelöst; die von der affectiven Vorstellung ausgehende Erregung wird in ein körperliches Phänomen „convertirt“. (Freud.)

Ist durch oftmalige Wiederholung dieser abnorme Reflex vollständig gebahnt worden, so kann sich, wie es scheint, die Wirksamkeit der auslösenden Vorstellungen darin so vollständig erschöpfen, dass der Affect selbst nur in minimaler Stärke oder gar nicht entsteht; dann ist die „hysterische Conversion“ vollständig. Die Vorstellung aber, welche nun nicht mehr psychische Wirkungen hat, kann von dem Individuum übersehen oder ihr Auftauchen alsbald wieder vergessen werden, wie es bei andern affectlosen Vorstellungen geschieht.

Ein solches Ersetzen der cerebralen Erregung, welche eine Vorstellung bedingen sollte, durch eine Erregung peripherer Bahnen wird vielleicht annehmbarer durch die Erinnerung an das umgekehrte Verhalten beim Ausbleiben eines präformirten Reflexes. Ich wähle ein höchst triviales Beispiel, den Niessreflex. Wenn ein Reiz auf der Nasenschleimhaut diesen präformirten Reflex aus irgend einem Grunde nicht auslöst, so entsteht bekanntermaassen ein Gefühl von Erregung und Spannung. Es ist die Erregung, welche auf den motorischen Bahnen nicht abströmen kann und nun, jede andere Thätigkeit hemmend, über das Gehirn sich verbreitet. Dieses banalste Beispiel bietet doch das Schema für den Vorgang beim Ausbleiben auch der complicirtesten psychischen Reflexe. Die oben besprochene Aufregung des Rachetriebes ist wesentlich dasselbe; und bis in die höchsten Sphären menschlicher Leistungen können wir den Process verfolgen. Goethe wird mit einem Erlebniss nicht fertig, bis er es in dichterischer Thätigkeit erledigt hat. Bei ihm ist dies der präformirte Reflex eines Affectes, und

Erinnerung immer wieder ausgelöst, und es entsteht der „Rachetrieb“ als irrationaler Willensimpuls wie alle „Triebe“. Beweis hiefür ist eben seine Irrationalität, seine Unabhängigkeit von allem Nutzen und aller Zweckmässigkeit; ja sein Sieg über alle Rücksichten der eigenen Sicherheit. Sobald der Reflex ausgelöst worden ist, kann diese Irrationalität in’s Bewusstsein treten.
„Ein anderes Antlitz, bevor sie geschehen,
Ein anderes trägt die vollbrachte That.“
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div>
          <p><pb facs="#f0186" n="180"/>
so drängt die Erinnerung immer wieder die scheltenden Worten auf die Lippen, welche damals unterdrückt wurden, und welche der psychische Reflex jenes Reizes gewesen wären.</p>
          <p>Hat sich der ursprüngliche Affect nicht in dem normalen, sondern in einem &#x201E;abnormen Reflex&#x201C; entladen, so wird auch dieser durch die Erinnerung wieder ausgelöst; die von der affectiven Vorstellung ausgehende Erregung wird in ein körperliches Phänomen <hi rendition="#g">&#x201E;convertirt&#x201C;. (Freud.)</hi></p>
          <p>Ist durch oftmalige Wiederholung dieser abnorme Reflex vollständig gebahnt worden, so kann sich, wie es scheint, die Wirksamkeit der auslösenden Vorstellungen darin so vollständig erschöpfen, dass der Affect selbst nur in minimaler Stärke oder gar nicht entsteht; dann ist die <hi rendition="#g">&#x201E;hysterische Conversion&#x201C;</hi> vollständig. Die Vorstellung aber, welche nun nicht mehr psychische Wirkungen hat, kann von dem Individuum übersehen oder ihr Auftauchen alsbald wieder vergessen werden, wie es bei andern affectlosen Vorstellungen geschieht.</p>
          <p>Ein solches Ersetzen der cerebralen Erregung, welche eine Vorstellung bedingen sollte, durch eine Erregung peripherer Bahnen wird vielleicht annehmbarer durch die Erinnerung an das umgekehrte Verhalten beim Ausbleiben eines präformirten Reflexes. Ich wähle ein höchst triviales Beispiel, den Niessreflex. Wenn ein Reiz auf der Nasenschleimhaut diesen präformirten Reflex aus irgend einem Grunde nicht auslöst, so entsteht bekanntermaassen ein Gefühl von Erregung und Spannung. Es ist die Erregung, welche auf den motorischen Bahnen nicht abströmen kann und nun, jede andere Thätigkeit hemmend, über das Gehirn sich verbreitet. Dieses banalste Beispiel bietet doch das Schema für den Vorgang beim Ausbleiben auch der complicirtesten psychischen Reflexe. Die oben besprochene Aufregung des Rachetriebes ist wesentlich dasselbe; und bis in die höchsten Sphären menschlicher Leistungen können wir den Process verfolgen. <hi rendition="#g">Goethe</hi> wird mit einem Erlebniss nicht fertig, bis er es in dichterischer Thätigkeit erledigt hat. Bei ihm ist dies der präformirte Reflex eines Affectes, und          <note place="foot"><p xml:id="p22" prev="p21">Erinnerung immer wieder ausgelöst, und es entsteht der &#x201E;Rachetrieb&#x201C; als irrationaler Willensimpuls wie alle &#x201E;Triebe&#x201C;. Beweis hiefür ist eben seine Irrationalität, seine Unabhängigkeit von allem Nutzen und aller Zweckmässigkeit; ja sein Sieg über alle Rücksichten der eigenen Sicherheit. Sobald der Reflex ausgelöst worden ist, kann diese Irrationalität in&#x2019;s Bewusstsein treten.</p><lg type="poem"><l>&#x201E;Ein anderes Antlitz, bevor sie geschehen,</l><lb/><l>Ein anderes trägt die vollbrachte That.&#x201C;</l><lb/></lg></note>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[180/0186] so drängt die Erinnerung immer wieder die scheltenden Worten auf die Lippen, welche damals unterdrückt wurden, und welche der psychische Reflex jenes Reizes gewesen wären. Hat sich der ursprüngliche Affect nicht in dem normalen, sondern in einem „abnormen Reflex“ entladen, so wird auch dieser durch die Erinnerung wieder ausgelöst; die von der affectiven Vorstellung ausgehende Erregung wird in ein körperliches Phänomen „convertirt“. (Freud.) Ist durch oftmalige Wiederholung dieser abnorme Reflex vollständig gebahnt worden, so kann sich, wie es scheint, die Wirksamkeit der auslösenden Vorstellungen darin so vollständig erschöpfen, dass der Affect selbst nur in minimaler Stärke oder gar nicht entsteht; dann ist die „hysterische Conversion“ vollständig. Die Vorstellung aber, welche nun nicht mehr psychische Wirkungen hat, kann von dem Individuum übersehen oder ihr Auftauchen alsbald wieder vergessen werden, wie es bei andern affectlosen Vorstellungen geschieht. Ein solches Ersetzen der cerebralen Erregung, welche eine Vorstellung bedingen sollte, durch eine Erregung peripherer Bahnen wird vielleicht annehmbarer durch die Erinnerung an das umgekehrte Verhalten beim Ausbleiben eines präformirten Reflexes. Ich wähle ein höchst triviales Beispiel, den Niessreflex. Wenn ein Reiz auf der Nasenschleimhaut diesen präformirten Reflex aus irgend einem Grunde nicht auslöst, so entsteht bekanntermaassen ein Gefühl von Erregung und Spannung. Es ist die Erregung, welche auf den motorischen Bahnen nicht abströmen kann und nun, jede andere Thätigkeit hemmend, über das Gehirn sich verbreitet. Dieses banalste Beispiel bietet doch das Schema für den Vorgang beim Ausbleiben auch der complicirtesten psychischen Reflexe. Die oben besprochene Aufregung des Rachetriebes ist wesentlich dasselbe; und bis in die höchsten Sphären menschlicher Leistungen können wir den Process verfolgen. Goethe wird mit einem Erlebniss nicht fertig, bis er es in dichterischer Thätigkeit erledigt hat. Bei ihm ist dies der präformirte Reflex eines Affectes, und Erinnerung immer wieder ausgelöst, und es entsteht der „Rachetrieb“ als irrationaler Willensimpuls wie alle „Triebe“. Beweis hiefür ist eben seine Irrationalität, seine Unabhängigkeit von allem Nutzen und aller Zweckmässigkeit; ja sein Sieg über alle Rücksichten der eigenen Sicherheit. Sobald der Reflex ausgelöst worden ist, kann diese Irrationalität in’s Bewusstsein treten. „Ein anderes Antlitz, bevor sie geschehen, Ein anderes trägt die vollbrachte That.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/186
Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/186>, abgerufen am 27.04.2024.