Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.Ich war nicht sehr befriedigt von dem Erfolge meiner Therapie. Da war also eingetroffen, was man einer bloss symptomatischen Therapie immer zur Last legt; man hatte ein Symptom weggenommen, bloss damit ein neues an die freie Stelle rücken könne. Indess machte ich mich bereitwillig an die analytische Beseitigung dieses neuen Erinnerungssymbols. Diesmal wusste sie aber nicht, woher die subjective Geruchsempfindung stamme, bei welcher wichtigen Gelegenheit sie eine objective gewesen sei. "Es wird täglich geraucht bei uns", meinte sie; "ich weiss wirklich nicht, ob der Geruch, den ich verspüre, eine besondere Gelegenheit bedeutet." Ich beharrte nun darauf, dass sie versuche, sich unter dem Drucke meiner Hand zu erinnern. Ich habe schon erwähnt, dass ihre Erinnerungen plastische Lebhaftigkeit hatten, dass sie eine "Visuelle" war. In der That tauchte unter meinem Drängen ein Bild in ihr auf, anfangs zögernd und nur stückweise. Es war das Speisezimmer ihres Hauses, in dem sie mit den Kindern wartet, bis die Herren aus der Fabrik zum Mittagsmal kommen. - Jetzt sitzen wir alle um den Tisch herum: die Herren, die Französin, die Haushälterin, die Kinder und ich. Das ist aber wie alle Tage - Sehen Sie nur weiter auf das Bild hin, es wird sich entwickeln und specialisiren. - Ja, es ist ein Gast da, der Oberbuchhalter, ein alter Herr, der die Kinder liebt wie eigene Enkel, aber der kommt so oft zu Mittag, das ist auch nichts Besonderes. - Haben Sie nur Geduld, blicken Sie immer nur auf das Bild, es wird gewiss etwas vorgehen. - Es geht nichts vor. Wir stehen vom Tisch auf, die Kinder sollen sich verabschieden und gehen dann mit uns wie alle Tage in den zweiten Stock. - Nun? - Es ist doch eine besondere Gelegenheit, ich erkenne die Scene jetzt. Wie die Kinder sich verabschieden, will der Oberbuchhalter sie küssen. Der Herr fährt auf und schreit ihn geradezu an. "Nicht die Kinder küssen." Dabei gibt es mir wie einen Stich in's Herz, und da die Herren schon rauchen, bleibt mir der Cigarrenrauch im Gedächtniss. Diess war also die zweite, tieferliegende Scene, die als Trauma gewirkt und ein Erinnerungssymbol hinterlassen hatte. Woher rührte aber die Wirksamkeit dieser Scene? - Ich fragte: Was ist der Zeit nach früher, diese Scene oder die mit der verbrannten Mehlspeise? - Die letzte Scene ist die frühere, und zwar um fast zwei Monate. - Warum hat es Ihnen denn einen Stich bei dieser Abwehr des Vaters gegeben? Der Verweis richtete sich doch nicht gegen Sie? - Es war Ich war nicht sehr befriedigt von dem Erfolge meiner Therapie. Da war also eingetroffen, was man einer bloss symptomatischen Therapie immer zur Last legt; man hatte ein Symptom weggenommen, bloss damit ein neues an die freie Stelle rücken könne. Indess machte ich mich bereitwillig an die analytische Beseitigung dieses neuen Erinnerungssymbols. Diesmal wusste sie aber nicht, woher die subjective Geruchsempfindung stamme, bei welcher wichtigen Gelegenheit sie eine objective gewesen sei. „Es wird täglich geraucht bei uns“, meinte sie; „ich weiss wirklich nicht, ob der Geruch, den ich verspüre, eine besondere Gelegenheit bedeutet.“ Ich beharrte nun darauf, dass sie versuche, sich unter dem Drucke meiner Hand zu erinnern. Ich habe schon erwähnt, dass ihre Erinnerungen plastische Lebhaftigkeit hatten, dass sie eine „Visuelle“ war. In der That tauchte unter meinem Drängen ein Bild in ihr auf, anfangs zögernd und nur stückweise. Es war das Speisezimmer ihres Hauses, in dem sie mit den Kindern wartet, bis die Herren aus der Fabrik zum Mittagsmal kommen. – Jetzt sitzen wir alle um den Tisch herum: die Herren, die Französin, die Haushälterin, die Kinder und ich. Das ist aber wie alle Tage – Sehen Sie nur weiter auf das Bild hin, es wird sich entwickeln und specialisiren. – Ja, es ist ein Gast da, der Oberbuchhalter, ein alter Herr, der die Kinder liebt wie eigene Enkel, aber der kommt so oft zu Mittag, das ist auch nichts Besonderes. – Haben Sie nur Geduld, blicken Sie immer nur auf das Bild, es wird gewiss etwas vorgehen. – Es geht nichts vor. Wir stehen vom Tisch auf, die Kinder sollen sich verabschieden und gehen dann mit uns wie alle Tage in den zweiten Stock. – Nun? – Es ist doch eine besondere Gelegenheit, ich erkenne die Scene jetzt. Wie die Kinder sich verabschieden, will der Oberbuchhalter sie küssen. Der Herr fährt auf und schreit ihn geradezu an. „Nicht die Kinder küssen.“ Dabei gibt es mir wie einen Stich in’s Herz, und da die Herren schon rauchen, bleibt mir der Cigarrenrauch im Gedächtniss. Diess war also die zweite, tieferliegende Scene, die als Trauma gewirkt und ein Erinnerungssymbol hinterlassen hatte. Woher rührte aber die Wirksamkeit dieser Scene? – Ich fragte: Was ist der Zeit nach früher, diese Scene oder die mit der verbrannten Mehlspeise? – Die letzte Scene ist die frühere, und zwar um fast zwei Monate. – Warum hat es Ihnen denn einen Stich bei dieser Abwehr des Vaters gegeben? Der Verweis richtete sich doch nicht gegen Sie? – Es war <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0108" n="102"/> <p>Ich war nicht sehr befriedigt von dem Erfolge meiner Therapie. Da war also eingetroffen, was man einer bloss symptomatischen Therapie immer zur Last legt; man hatte ein Symptom weggenommen, bloss damit ein neues an die freie Stelle rücken könne. Indess machte ich mich bereitwillig an die analytische Beseitigung dieses neuen Erinnerungssymbols.</p> <p>Diesmal wusste sie aber nicht, woher die subjective Geruchsempfindung stamme, bei welcher wichtigen Gelegenheit sie eine objective gewesen sei. „Es wird täglich geraucht bei uns“, meinte sie; „ich weiss wirklich nicht, ob der Geruch, den ich verspüre, eine besondere Gelegenheit bedeutet.“ Ich beharrte nun darauf, dass sie versuche, sich unter dem Drucke meiner Hand zu erinnern. Ich habe schon erwähnt, dass ihre Erinnerungen plastische Lebhaftigkeit hatten, dass sie eine „Visuelle“ war. In der That tauchte unter meinem Drängen ein Bild in ihr auf, anfangs zögernd und nur stückweise. Es war das Speisezimmer ihres Hauses, in dem sie mit den Kindern wartet, bis die Herren aus der Fabrik zum Mittagsmal kommen. – Jetzt sitzen wir alle um den Tisch herum: die Herren, die Französin, die Haushälterin, die Kinder und ich. Das ist aber wie alle Tage – Sehen Sie nur weiter auf das Bild hin, es wird sich entwickeln und specialisiren. – Ja, es ist ein Gast da, der Oberbuchhalter, ein alter Herr, der die Kinder liebt wie eigene Enkel, aber der kommt so oft zu Mittag, das ist auch nichts Besonderes. – Haben Sie nur Geduld, blicken Sie immer nur auf das Bild, es wird gewiss etwas vorgehen. – Es geht nichts vor. Wir stehen vom Tisch auf, die Kinder sollen sich verabschieden und gehen dann mit uns wie alle Tage in den zweiten Stock. – Nun? – Es ist doch eine besondere Gelegenheit, ich erkenne die Scene jetzt. Wie die Kinder sich verabschieden, will der Oberbuchhalter sie küssen. Der Herr fährt auf und schreit ihn geradezu an. „Nicht die Kinder küssen.“ Dabei gibt es mir wie einen Stich in’s Herz, und da die Herren schon rauchen, bleibt mir der Cigarrenrauch im Gedächtniss.</p> <p>Diess war also die zweite, tieferliegende Scene, die als Trauma gewirkt und ein Erinnerungssymbol hinterlassen hatte. Woher rührte aber die Wirksamkeit dieser Scene? – Ich fragte: Was ist der Zeit nach früher, diese Scene oder die mit der verbrannten Mehlspeise? – Die letzte Scene ist die frühere, und zwar um fast zwei Monate. – Warum hat es Ihnen denn einen Stich bei dieser Abwehr des Vaters gegeben? Der Verweis richtete sich doch nicht gegen Sie? – Es war </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [102/0108]
Ich war nicht sehr befriedigt von dem Erfolge meiner Therapie. Da war also eingetroffen, was man einer bloss symptomatischen Therapie immer zur Last legt; man hatte ein Symptom weggenommen, bloss damit ein neues an die freie Stelle rücken könne. Indess machte ich mich bereitwillig an die analytische Beseitigung dieses neuen Erinnerungssymbols.
Diesmal wusste sie aber nicht, woher die subjective Geruchsempfindung stamme, bei welcher wichtigen Gelegenheit sie eine objective gewesen sei. „Es wird täglich geraucht bei uns“, meinte sie; „ich weiss wirklich nicht, ob der Geruch, den ich verspüre, eine besondere Gelegenheit bedeutet.“ Ich beharrte nun darauf, dass sie versuche, sich unter dem Drucke meiner Hand zu erinnern. Ich habe schon erwähnt, dass ihre Erinnerungen plastische Lebhaftigkeit hatten, dass sie eine „Visuelle“ war. In der That tauchte unter meinem Drängen ein Bild in ihr auf, anfangs zögernd und nur stückweise. Es war das Speisezimmer ihres Hauses, in dem sie mit den Kindern wartet, bis die Herren aus der Fabrik zum Mittagsmal kommen. – Jetzt sitzen wir alle um den Tisch herum: die Herren, die Französin, die Haushälterin, die Kinder und ich. Das ist aber wie alle Tage – Sehen Sie nur weiter auf das Bild hin, es wird sich entwickeln und specialisiren. – Ja, es ist ein Gast da, der Oberbuchhalter, ein alter Herr, der die Kinder liebt wie eigene Enkel, aber der kommt so oft zu Mittag, das ist auch nichts Besonderes. – Haben Sie nur Geduld, blicken Sie immer nur auf das Bild, es wird gewiss etwas vorgehen. – Es geht nichts vor. Wir stehen vom Tisch auf, die Kinder sollen sich verabschieden und gehen dann mit uns wie alle Tage in den zweiten Stock. – Nun? – Es ist doch eine besondere Gelegenheit, ich erkenne die Scene jetzt. Wie die Kinder sich verabschieden, will der Oberbuchhalter sie küssen. Der Herr fährt auf und schreit ihn geradezu an. „Nicht die Kinder küssen.“ Dabei gibt es mir wie einen Stich in’s Herz, und da die Herren schon rauchen, bleibt mir der Cigarrenrauch im Gedächtniss.
Diess war also die zweite, tieferliegende Scene, die als Trauma gewirkt und ein Erinnerungssymbol hinterlassen hatte. Woher rührte aber die Wirksamkeit dieser Scene? – Ich fragte: Was ist der Zeit nach früher, diese Scene oder die mit der verbrannten Mehlspeise? – Die letzte Scene ist die frühere, und zwar um fast zwei Monate. – Warum hat es Ihnen denn einen Stich bei dieser Abwehr des Vaters gegeben? Der Verweis richtete sich doch nicht gegen Sie? – Es war
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