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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Erfordernisse der Kindererziehung. Er wurde weicher und herzlicher als gewöhnlich, sagte ihr, wie sehr er bei der Pflege seiner verwaisten Kinder auf sie rechne und blickte sie dabei besonders an ... In diesem Moment begann sie ihn zu lieben und beschäftigte sich selbst gerne mit der erfreulichen Hoffnung, die sie aus jenem Gespräch geschöpft hatte. Erst, als dann nichts mehr nachfolgte, als trotz ihres Wartens und Harrens keine zweite Stunde von vertraulichem Gedankenaustausch kam, beschloss sie, sich die Sache aus dem Sinn zu schlagen. Sie gibt mir ganz Recht, dass jener Blick im Zusammenhange des Gespräches wohl dem Andenken seiner verstorbenen Frau gegolten hat, ist sich auch völlig klar darüber, dass ihre Neigung völlig aussichtslos ist.

Ich erwartete von diesem Gespräch eine gründliche Aenderung ihres Zustandes, diese blieb aber einstweilen aus. Sie war weiterhin gedrückt und verstimmt; eine hydropathische Cur, die ich sie gleichzeitig nehmen liess, frischte sie des Morgens ein wenig auf; der Geruch der verbrannten Mehlspeise war nicht völlig geschwunden, wohl aber seltener und schwächer geworden; er kam, wie sie sagte, nur, wenn sie sehr aufgeregt war.

Das Fortbestehen dieses Erinnerungssymbols liess mich vermuthen, dass dasselbe ausser der Hauptscene die Vertretung der vielen kleinen Nebentraumen auf sich genommen, und so forschten wir denn nach allem, was sonst mit der Scene der verbrannten Mehlspeise in Zusammenhang stehen mochte, gingen das Thema der häuslichen Reibungen, des Benehmens des Grossvaters u. a. durch. Dabei schwand die Empfindung des brenzlichen Geruches immer mehr. Auch eine längere Unterbrechung fiel in diese Zeit, verursacht durch neuerliche Erkrankung der Nase, die jetzt zur Entdeckung der Caries des Siebbeines führte.

Als sie wiederkam, berichtete sie auch, dass Weihnachten ihr so zahlreiche Geschenke von Seiten der beiden Herren und selbst von den Dienstleuten des Hauses gebracht habe, als ob alle bestrebt seien, sie zu versöhnen und die Erinnerung an die Conflicte der letzten Monate bei ihr zu verwischen. Dies offenkundige Entgegenkommen habe ihr aber keinen Eindruck gemacht.

Als ich wieder ein anderes Mal nach dem Geruch der verbrannten Mehlspeise fragte, bekam ich die Auskunft, der sei zwar ganz geschwunden, allein an seiner Stelle quäle sie ein anderer und ähnlicher Geruch, wie von Cigarrenrauch. Derselbe sei wohl auch früher dagewesen, aber wie gedeckt durch den Geruch der Mehlspeise. Jetzt sei er rein hervorgetreten.

Erfordernisse der Kindererziehung. Er wurde weicher und herzlicher als gewöhnlich, sagte ihr, wie sehr er bei der Pflege seiner verwaisten Kinder auf sie rechne und blickte sie dabei besonders an ... In diesem Moment begann sie ihn zu lieben und beschäftigte sich selbst gerne mit der erfreulichen Hoffnung, die sie aus jenem Gespräch geschöpft hatte. Erst, als dann nichts mehr nachfolgte, als trotz ihres Wartens und Harrens keine zweite Stunde von vertraulichem Gedankenaustausch kam, beschloss sie, sich die Sache aus dem Sinn zu schlagen. Sie gibt mir ganz Recht, dass jener Blick im Zusammenhange des Gespräches wohl dem Andenken seiner verstorbenen Frau gegolten hat, ist sich auch völlig klar darüber, dass ihre Neigung völlig aussichtslos ist.

Ich erwartete von diesem Gespräch eine gründliche Aenderung ihres Zustandes, diese blieb aber einstweilen aus. Sie war weiterhin gedrückt und verstimmt; eine hydropathische Cur, die ich sie gleichzeitig nehmen liess, frischte sie des Morgens ein wenig auf; der Geruch der verbrannten Mehlspeise war nicht völlig geschwunden, wohl aber seltener und schwächer geworden; er kam, wie sie sagte, nur, wenn sie sehr aufgeregt war.

Das Fortbestehen dieses Erinnerungssymbols liess mich vermuthen, dass dasselbe ausser der Hauptscene die Vertretung der vielen kleinen Nebentraumen auf sich genommen, und so forschten wir denn nach allem, was sonst mit der Scene der verbrannten Mehlspeise in Zusammenhang stehen mochte, gingen das Thema der häuslichen Reibungen, des Benehmens des Grossvaters u. a. durch. Dabei schwand die Empfindung des brenzlichen Geruches immer mehr. Auch eine längere Unterbrechung fiel in diese Zeit, verursacht durch neuerliche Erkrankung der Nase, die jetzt zur Entdeckung der Caries des Siebbeines führte.

Als sie wiederkam, berichtete sie auch, dass Weihnachten ihr so zahlreiche Geschenke von Seiten der beiden Herren und selbst von den Dienstleuten des Hauses gebracht habe, als ob alle bestrebt seien, sie zu versöhnen und die Erinnerung an die Conflicte der letzten Monate bei ihr zu verwischen. Dies offenkundige Entgegenkommen habe ihr aber keinen Eindruck gemacht.

Als ich wieder ein anderes Mal nach dem Geruch der verbrannten Mehlspeise fragte, bekam ich die Auskunft, der sei zwar ganz geschwunden, allein an seiner Stelle quäle sie ein anderer und ähnlicher Geruch, wie von Cigarrenrauch. Derselbe sei wohl auch früher dagewesen, aber wie gedeckt durch den Geruch der Mehlspeise. Jetzt sei er rein hervorgetreten.

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Erfordernisse der Kindererziehung. Er wurde weicher und herzlicher als gewöhnlich, sagte ihr, wie sehr er bei der Pflege seiner verwaisten Kinder auf sie rechne und blickte sie dabei besonders an ... In diesem Moment begann sie ihn zu lieben und beschäftigte sich selbst gerne mit der erfreulichen Hoffnung, die sie aus jenem Gespräch geschöpft hatte. Erst, als dann nichts mehr nachfolgte, als trotz ihres Wartens und Harrens keine zweite Stunde von vertraulichem Gedankenaustausch kam, beschloss sie, sich die Sache aus dem Sinn zu schlagen. Sie gibt mir ganz Recht, dass jener Blick im Zusammenhange des Gespräches wohl dem Andenken seiner verstorbenen Frau gegolten hat, ist sich auch völlig klar darüber, dass ihre Neigung völlig aussichtslos ist.</p>
          <p>Ich erwartete von diesem Gespräch eine gründliche Aenderung ihres Zustandes, diese blieb aber einstweilen aus. Sie war weiterhin gedrückt und verstimmt; eine hydropathische Cur, die ich sie gleichzeitig nehmen liess, frischte sie des Morgens ein wenig auf; der Geruch der verbrannten Mehlspeise war nicht völlig geschwunden, wohl aber seltener und schwächer geworden; er kam, wie sie sagte, nur, wenn sie sehr aufgeregt war.</p>
          <p>Das Fortbestehen dieses Erinnerungssymbols liess mich vermuthen, dass dasselbe ausser der Hauptscene die Vertretung der vielen kleinen Nebentraumen auf sich genommen, und so forschten wir denn nach allem, was sonst mit der Scene der verbrannten Mehlspeise in Zusammenhang stehen mochte, gingen das Thema der häuslichen Reibungen, des Benehmens des Grossvaters u. a. durch. Dabei schwand die Empfindung des brenzlichen Geruches immer mehr. Auch eine längere Unterbrechung fiel in diese Zeit, verursacht durch neuerliche Erkrankung der Nase, die jetzt zur Entdeckung der Caries des Siebbeines führte.</p>
          <p>Als sie wiederkam, berichtete sie auch, dass Weihnachten ihr so zahlreiche Geschenke von Seiten der beiden Herren und selbst von den Dienstleuten des Hauses gebracht habe, als ob alle bestrebt seien, sie zu versöhnen und die Erinnerung an die Conflicte der letzten Monate bei ihr zu verwischen. Dies offenkundige Entgegenkommen habe ihr aber keinen Eindruck gemacht.</p>
          <p>Als ich wieder ein anderes Mal nach dem Geruch der verbrannten Mehlspeise fragte, bekam ich die Auskunft, der sei zwar ganz geschwunden, allein an seiner Stelle quäle sie ein anderer und ähnlicher Geruch, wie von Cigarrenrauch. Derselbe sei wohl auch früher dagewesen, aber wie gedeckt durch den Geruch der Mehlspeise. Jetzt sei er rein hervorgetreten.</p>
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[101/0107] Erfordernisse der Kindererziehung. Er wurde weicher und herzlicher als gewöhnlich, sagte ihr, wie sehr er bei der Pflege seiner verwaisten Kinder auf sie rechne und blickte sie dabei besonders an ... In diesem Moment begann sie ihn zu lieben und beschäftigte sich selbst gerne mit der erfreulichen Hoffnung, die sie aus jenem Gespräch geschöpft hatte. Erst, als dann nichts mehr nachfolgte, als trotz ihres Wartens und Harrens keine zweite Stunde von vertraulichem Gedankenaustausch kam, beschloss sie, sich die Sache aus dem Sinn zu schlagen. Sie gibt mir ganz Recht, dass jener Blick im Zusammenhange des Gespräches wohl dem Andenken seiner verstorbenen Frau gegolten hat, ist sich auch völlig klar darüber, dass ihre Neigung völlig aussichtslos ist. Ich erwartete von diesem Gespräch eine gründliche Aenderung ihres Zustandes, diese blieb aber einstweilen aus. Sie war weiterhin gedrückt und verstimmt; eine hydropathische Cur, die ich sie gleichzeitig nehmen liess, frischte sie des Morgens ein wenig auf; der Geruch der verbrannten Mehlspeise war nicht völlig geschwunden, wohl aber seltener und schwächer geworden; er kam, wie sie sagte, nur, wenn sie sehr aufgeregt war. Das Fortbestehen dieses Erinnerungssymbols liess mich vermuthen, dass dasselbe ausser der Hauptscene die Vertretung der vielen kleinen Nebentraumen auf sich genommen, und so forschten wir denn nach allem, was sonst mit der Scene der verbrannten Mehlspeise in Zusammenhang stehen mochte, gingen das Thema der häuslichen Reibungen, des Benehmens des Grossvaters u. a. durch. Dabei schwand die Empfindung des brenzlichen Geruches immer mehr. Auch eine längere Unterbrechung fiel in diese Zeit, verursacht durch neuerliche Erkrankung der Nase, die jetzt zur Entdeckung der Caries des Siebbeines führte. Als sie wiederkam, berichtete sie auch, dass Weihnachten ihr so zahlreiche Geschenke von Seiten der beiden Herren und selbst von den Dienstleuten des Hauses gebracht habe, als ob alle bestrebt seien, sie zu versöhnen und die Erinnerung an die Conflicte der letzten Monate bei ihr zu verwischen. Dies offenkundige Entgegenkommen habe ihr aber keinen Eindruck gemacht. Als ich wieder ein anderes Mal nach dem Geruch der verbrannten Mehlspeise fragte, bekam ich die Auskunft, der sei zwar ganz geschwunden, allein an seiner Stelle quäle sie ein anderer und ähnlicher Geruch, wie von Cigarrenrauch. Derselbe sei wohl auch früher dagewesen, aber wie gedeckt durch den Geruch der Mehlspeise. Jetzt sei er rein hervorgetreten.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/107>, abgerufen am 04.05.2024.