Frapan, Ilse [i. e. Ilse Akunian]: Flügel auf! Novellen. Berlin, 1895.Die Doktorin war nach wenigen Tagen beweglich und beschäftigt wie immer. Er sah sie zuerst auf der Straße wieder; sie trug einen großen weißgrünen Blumenkranz. In aller Geschwindigkeit erzählte sie ihm, daß ihre alte Putzfrau gestorben sei, die gewiß von Niemand sonst einen Kranz bekomme. Sie sei ein wüstes trunkfälliges Weib gewesen, hörte Iversen mit halben Ohren; die Geschichte war ihm sehr gleichgültig. "Ich finde Sie angegriffen aussehen, und da laufen Sie nun schon wieder für fremde Leute herum, und noch gar für todte!" zankte er, um nur etwas zu sagen. "Verzeihen Sie, daß ich Sie neulich nicht empfangen habe unter meinen Kolben und Mixturen," sagte sie; "aber wenn man dreiundsechzig und immer noch ein bißchen eitel ist" - sie schüttelte das Haupt, ihr Lächeln hatte etwas Sonderbares, als könnte es leicht in Weinen umschlagen. Der Student lief schnell davon, um es nicht zu erleben. Die heißen Tage kamen. Wie ein Dampfbad war die Luft, denn es gewitterte jede Nacht. Iversen saß den ganzen Tag in seiner Stube, die grünen Läden geschlossen, den Zimmerschlüssel umgedreht. Abends trieb er sich auf dem See herum, meistens allein; er war in der letzten Zeit wortkarg geworden. Eigentlich apostrophirte er fortwährend die Unbekannte, laut, leise, oder nur in Gedanken, in Prosa, in Versen, Die Doktorin war nach wenigen Tagen beweglich und beschäftigt wie immer. Er sah sie zuerst auf der Straße wieder; sie trug einen großen weißgrünen Blumenkranz. In aller Geschwindigkeit erzählte sie ihm, daß ihre alte Putzfrau gestorben sei, die gewiß von Niemand sonst einen Kranz bekomme. Sie sei ein wüstes trunkfälliges Weib gewesen, hörte Iversen mit halben Ohren; die Geschichte war ihm sehr gleichgültig. „Ich finde Sie angegriffen aussehen, und da laufen Sie nun schon wieder für fremde Leute herum, und noch gar für todte!“ zankte er, um nur etwas zu sagen. „Verzeihen Sie, daß ich Sie neulich nicht empfangen habe unter meinen Kolben und Mixturen,“ sagte sie; „aber wenn man dreiundsechzig und immer noch ein bißchen eitel ist“ – sie schüttelte das Haupt, ihr Lächeln hatte etwas Sonderbares, als könnte es leicht in Weinen umschlagen. Der Student lief schnell davon, um es nicht zu erleben. Die heißen Tage kamen. Wie ein Dampfbad war die Luft, denn es gewitterte jede Nacht. Iversen saß den ganzen Tag in seiner Stube, die grünen Läden geschlossen, den Zimmerschlüssel umgedreht. Abends trieb er sich auf dem See herum, meistens allein; er war in der letzten Zeit wortkarg geworden. Eigentlich apostrophirte er fortwährend die Unbekannte, laut, leise, oder nur in Gedanken, in Prosa, in Versen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0071" n="63"/> <p>Die Doktorin war nach wenigen Tagen beweglich und beschäftigt wie immer. Er sah sie zuerst auf der Straße wieder; sie trug einen großen weißgrünen Blumenkranz. In aller Geschwindigkeit erzählte sie ihm, daß ihre alte Putzfrau gestorben sei, die gewiß von Niemand sonst einen Kranz bekomme. Sie sei ein wüstes trunkfälliges Weib gewesen, hörte Iversen mit halben Ohren; die Geschichte war ihm sehr gleichgültig.</p> <p>„Ich finde Sie angegriffen aussehen, und da laufen Sie nun schon wieder für fremde Leute herum, und noch gar für todte!“ zankte er, um nur etwas zu sagen.</p> <p>„Verzeihen Sie, daß ich Sie neulich nicht empfangen habe unter meinen Kolben und Mixturen,“ sagte sie; „aber wenn man dreiundsechzig und immer noch ein bißchen eitel ist“ – sie schüttelte das Haupt, ihr Lächeln hatte etwas Sonderbares, als könnte es leicht in Weinen umschlagen. Der Student lief schnell davon, um es nicht zu erleben.</p> <p>Die heißen Tage kamen. Wie ein Dampfbad war die Luft, denn es gewitterte jede Nacht. Iversen saß den ganzen Tag in seiner Stube, die grünen Läden geschlossen, den Zimmerschlüssel umgedreht. Abends trieb er sich auf dem See herum, meistens allein; er war in der letzten Zeit wortkarg geworden. Eigentlich apostrophirte er fortwährend die Unbekannte, laut, leise, oder nur in Gedanken, in Prosa, in Versen, </p> </div> </body> </text> </TEI> [63/0071]
Die Doktorin war nach wenigen Tagen beweglich und beschäftigt wie immer. Er sah sie zuerst auf der Straße wieder; sie trug einen großen weißgrünen Blumenkranz. In aller Geschwindigkeit erzählte sie ihm, daß ihre alte Putzfrau gestorben sei, die gewiß von Niemand sonst einen Kranz bekomme. Sie sei ein wüstes trunkfälliges Weib gewesen, hörte Iversen mit halben Ohren; die Geschichte war ihm sehr gleichgültig.
„Ich finde Sie angegriffen aussehen, und da laufen Sie nun schon wieder für fremde Leute herum, und noch gar für todte!“ zankte er, um nur etwas zu sagen.
„Verzeihen Sie, daß ich Sie neulich nicht empfangen habe unter meinen Kolben und Mixturen,“ sagte sie; „aber wenn man dreiundsechzig und immer noch ein bißchen eitel ist“ – sie schüttelte das Haupt, ihr Lächeln hatte etwas Sonderbares, als könnte es leicht in Weinen umschlagen. Der Student lief schnell davon, um es nicht zu erleben.
Die heißen Tage kamen. Wie ein Dampfbad war die Luft, denn es gewitterte jede Nacht. Iversen saß den ganzen Tag in seiner Stube, die grünen Läden geschlossen, den Zimmerschlüssel umgedreht. Abends trieb er sich auf dem See herum, meistens allein; er war in der letzten Zeit wortkarg geworden. Eigentlich apostrophirte er fortwährend die Unbekannte, laut, leise, oder nur in Gedanken, in Prosa, in Versen,
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Zitationshilfe: | Frapan, Ilse [i. e. Ilse Akunian]: Flügel auf! Novellen. Berlin, 1895, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/frapan_fluegel_1895/71>, abgerufen am 23.07.2024. |