Frapan, Ilse [i. e. Ilse Akunian]: Flügel auf! Novellen. Berlin, 1895."Verehrte Frau! Mein Seelenzustand ist seit einigen Wochen ein derartiger, daß Sie Mitleid mit mir haben würden, wenn Sie in mich hineinsehen könnten. Ich fühlte es schon in den ersten Stunden des Wiedersehens, daß zwischen Toni und mir etwas zerrissen ist, das nie wieder angeknüpft werden kann. Ich fühlte, daß ich sie frei geben müsse, um uns beide vor einem traurigen Schicksal zu bewahren. Wollen Sie, können Sie mir verzeihen, daß ich so lange nicht den Muth fand, es zu sagen? Ich bin hierher geflüchtet, um mit mir ins Reine zu kommen, ich glaube nicht, daß ich Sie und Ihre Tochter mit meinem heutigen Geständniß überraschen werde. Sie und ich, wir gehören zwei verschiedenen Welten an, das ist uns in diesen unglückseligen gezwungenen Wochen stündlich klarer geworden. Daß ich es trotzdem als schwere Schuld empfind, mein gegebenes Wort zurückzuziehen, daß ich Sie, verehrte Frau, inständig bitte, Toni von meinem mühsam errungenen Entschluß auf die schonendste Weise in Kenntniß zu setzen, wird vielleicht Ihren berechtigten Groll mildern gegen Ihren unglücklichen Richard Hausdörffer, Dr. med." Toni sah ihrer Mutter vom Gesicht ab, was der Brief enthielt. Sie brach in verzweifeltes Schluchzen aus: "Mama, Mama, sag es mir gleich! Nicht wahr, er läßt mich sitzen? O! O! O!" „Verehrte Frau! Mein Seelenzustand ist seit einigen Wochen ein derartiger, daß Sie Mitleid mit mir haben würden, wenn Sie in mich hineinsehen könnten. Ich fühlte es schon in den ersten Stunden des Wiedersehens, daß zwischen Toni und mir etwas zerrissen ist, das nie wieder angeknüpft werden kann. Ich fühlte, daß ich sie frei geben müsse, um uns beide vor einem traurigen Schicksal zu bewahren. Wollen Sie, können Sie mir verzeihen, daß ich so lange nicht den Muth fand, es zu sagen? Ich bin hierher geflüchtet, um mit mir ins Reine zu kommen, ich glaube nicht, daß ich Sie und Ihre Tochter mit meinem heutigen Geständniß überraschen werde. Sie und ich, wir gehören zwei verschiedenen Welten an, das ist uns in diesen unglückseligen gezwungenen Wochen stündlich klarer geworden. Daß ich es trotzdem als schwere Schuld empfind, mein gegebenes Wort zurückzuziehen, daß ich Sie, verehrte Frau, inständig bitte, Toni von meinem mühsam errungenen Entschluß auf die schonendste Weise in Kenntniß zu setzen, wird vielleicht Ihren berechtigten Groll mildern gegen Ihren unglücklichen Richard Hausdörffer, Dr. med.“ Toni sah ihrer Mutter vom Gesicht ab, was der Brief enthielt. Sie brach in verzweifeltes Schluchzen aus: „Mama, Mama, sag es mir gleich! Nicht wahr, er läßt mich sitzen? O! O! O!“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0166" n="158"/> <p>„Verehrte Frau!</p> <p>Mein Seelenzustand ist seit einigen Wochen ein derartiger, daß Sie Mitleid mit mir haben würden, wenn Sie in mich hineinsehen könnten. Ich fühlte es schon in den ersten Stunden des Wiedersehens, daß zwischen Toni und mir etwas zerrissen ist, das nie wieder angeknüpft werden kann. Ich fühlte, daß ich sie frei geben müsse, um uns beide vor einem traurigen Schicksal zu bewahren. Wollen Sie, können Sie mir verzeihen, daß ich so lange nicht den Muth fand, es zu sagen? Ich bin hierher geflüchtet, um mit mir ins Reine zu kommen, ich glaube nicht, daß ich Sie und Ihre Tochter mit meinem heutigen Geständniß überraschen werde. Sie und ich, wir gehören zwei verschiedenen Welten an, das ist uns in diesen unglückseligen gezwungenen Wochen stündlich klarer geworden. Daß ich es trotzdem als schwere Schuld empfind, mein gegebenes Wort zurückzuziehen, daß ich Sie, verehrte Frau, inständig bitte, Toni von meinem mühsam errungenen Entschluß auf die schonendste Weise in Kenntniß zu setzen, wird vielleicht Ihren berechtigten Groll mildern gegen Ihren unglücklichen</p> <p>Richard Hausdörffer, Dr. med.“</p> <p>Toni sah ihrer Mutter vom Gesicht ab, was der Brief enthielt. Sie brach in verzweifeltes Schluchzen aus: „Mama, Mama, sag es mir gleich! Nicht wahr, er läßt mich sitzen? O! O! O!“</p> </div> </body> </text> </TEI> [158/0166]
„Verehrte Frau!
Mein Seelenzustand ist seit einigen Wochen ein derartiger, daß Sie Mitleid mit mir haben würden, wenn Sie in mich hineinsehen könnten. Ich fühlte es schon in den ersten Stunden des Wiedersehens, daß zwischen Toni und mir etwas zerrissen ist, das nie wieder angeknüpft werden kann. Ich fühlte, daß ich sie frei geben müsse, um uns beide vor einem traurigen Schicksal zu bewahren. Wollen Sie, können Sie mir verzeihen, daß ich so lange nicht den Muth fand, es zu sagen? Ich bin hierher geflüchtet, um mit mir ins Reine zu kommen, ich glaube nicht, daß ich Sie und Ihre Tochter mit meinem heutigen Geständniß überraschen werde. Sie und ich, wir gehören zwei verschiedenen Welten an, das ist uns in diesen unglückseligen gezwungenen Wochen stündlich klarer geworden. Daß ich es trotzdem als schwere Schuld empfind, mein gegebenes Wort zurückzuziehen, daß ich Sie, verehrte Frau, inständig bitte, Toni von meinem mühsam errungenen Entschluß auf die schonendste Weise in Kenntniß zu setzen, wird vielleicht Ihren berechtigten Groll mildern gegen Ihren unglücklichen
Richard Hausdörffer, Dr. med.“
Toni sah ihrer Mutter vom Gesicht ab, was der Brief enthielt. Sie brach in verzweifeltes Schluchzen aus: „Mama, Mama, sag es mir gleich! Nicht wahr, er läßt mich sitzen? O! O! O!“
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