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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

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eilen wollte, trat mir der Probst entgegen. "Ich halte
es für besser," sagte er, "mit dem Kleinen hier zu
übernachten und erst morgen --"

"Der Junge wird im Wagen so gut wie hier
im Bette schlafen," unterbrach ich ihn gereizt. "Rasch
voran!" Er sann einen Moment und folgte mir dann,
den schlummernden Knaben auf dem Arme.

Des Freundes ausführliche Mittheilung hatte
meine Aufregung nur gesteigert. Sicherlich nicht ohne
seine Absicht: die Gährung sollte vor den actuellen
Eindrücken verbrausen. Zum ersten und Gottlob einzigen
Male im Leben fühlte ich mich in einem Zustande
von, -- dreist heraus, in einem Zustande von Wuth;
von Wuth zunächst gegen mich selbst. Ich hätte mir
das Haar ausraufen, oder die Wagenfenster zerschlagen,
ich hätte schreien, oder wie ein wildes Roß mir die
Adern zerbeißen mögen, um dem kochenden Blute ein
Ventil zu öffnen. Ich, ich hatte dieses strafwürdige
Ereigniß verschuldet; ich die Sünde gedeckt, die Un¬
treue verheimlicht; getäuscht die arglosen Eltern, auf
deren guten Glauben hin ein Ehrenmann in seinem
Allerheiligsten voraussichtlich zur Stunde schon betrogen
war. Ich, ich hatte die stolze Zuversicht der eignen
Seele für allezeit zerstört.

eilen wollte, trat mir der Probſt entgegen. „Ich halte
es für beſſer,“ ſagte er, „mit dem Kleinen hier zu
übernachten und erſt morgen —“

„Der Junge wird im Wagen ſo gut wie hier
im Bette ſchlafen,“ unterbrach ich ihn gereizt. „Raſch
voran!“ Er ſann einen Moment und folgte mir dann,
den ſchlummernden Knaben auf dem Arme.

Des Freundes ausführliche Mittheilung hatte
meine Aufregung nur geſteigert. Sicherlich nicht ohne
ſeine Abſicht: die Gährung ſollte vor den actuellen
Eindrücken verbrauſen. Zum erſten und Gottlob einzigen
Male im Leben fühlte ich mich in einem Zuſtande
von, — dreiſt heraus, in einem Zuſtande von Wuth;
von Wuth zunächſt gegen mich ſelbſt. Ich hätte mir
das Haar ausraufen, oder die Wagenfenſter zerſchlagen,
ich hätte ſchreien, oder wie ein wildes Roß mir die
Adern zerbeißen mögen, um dem kochenden Blute ein
Ventil zu öffnen. Ich, ich hatte dieſes ſtrafwürdige
Ereigniß verſchuldet; ich die Sünde gedeckt, die Un¬
treue verheimlicht; getäuſcht die argloſen Eltern, auf
deren guten Glauben hin ein Ehrenmann in ſeinem
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war. Ich, ich hatte die ſtolze Zuverſicht der eignen
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[94/0098] eilen wollte, trat mir der Probſt entgegen. „Ich halte es für beſſer,“ ſagte er, „mit dem Kleinen hier zu übernachten und erſt morgen —“ „Der Junge wird im Wagen ſo gut wie hier im Bette ſchlafen,“ unterbrach ich ihn gereizt. „Raſch voran!“ Er ſann einen Moment und folgte mir dann, den ſchlummernden Knaben auf dem Arme. Des Freundes ausführliche Mittheilung hatte meine Aufregung nur geſteigert. Sicherlich nicht ohne ſeine Abſicht: die Gährung ſollte vor den actuellen Eindrücken verbrauſen. Zum erſten und Gottlob einzigen Male im Leben fühlte ich mich in einem Zuſtande von, — dreiſt heraus, in einem Zuſtande von Wuth; von Wuth zunächſt gegen mich ſelbſt. Ich hätte mir das Haar ausraufen, oder die Wagenfenſter zerſchlagen, ich hätte ſchreien, oder wie ein wildes Roß mir die Adern zerbeißen mögen, um dem kochenden Blute ein Ventil zu öffnen. Ich, ich hatte dieſes ſtrafwürdige Ereigniß verſchuldet; ich die Sünde gedeckt, die Un¬ treue verheimlicht; getäuſcht die argloſen Eltern, auf deren guten Glauben hin ein Ehrenmann in ſeinem Allerheiligſten vorausſichtlich zur Stunde ſchon betrogen war. Ich, ich hatte die ſtolze Zuverſicht der eignen Seele für allezeit zerſtört.

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/98>, abgerufen am 19.04.2024.