eilen wollte, trat mir der Probst entgegen. "Ich halte es für besser," sagte er, "mit dem Kleinen hier zu übernachten und erst morgen --"
"Der Junge wird im Wagen so gut wie hier im Bette schlafen," unterbrach ich ihn gereizt. "Rasch voran!" Er sann einen Moment und folgte mir dann, den schlummernden Knaben auf dem Arme.
Des Freundes ausführliche Mittheilung hatte meine Aufregung nur gesteigert. Sicherlich nicht ohne seine Absicht: die Gährung sollte vor den actuellen Eindrücken verbrausen. Zum ersten und Gottlob einzigen Male im Leben fühlte ich mich in einem Zustande von, -- dreist heraus, in einem Zustande von Wuth; von Wuth zunächst gegen mich selbst. Ich hätte mir das Haar ausraufen, oder die Wagenfenster zerschlagen, ich hätte schreien, oder wie ein wildes Roß mir die Adern zerbeißen mögen, um dem kochenden Blute ein Ventil zu öffnen. Ich, ich hatte dieses strafwürdige Ereigniß verschuldet; ich die Sünde gedeckt, die Un¬ treue verheimlicht; getäuscht die arglosen Eltern, auf deren guten Glauben hin ein Ehrenmann in seinem Allerheiligsten voraussichtlich zur Stunde schon betrogen war. Ich, ich hatte die stolze Zuversicht der eignen Seele für allezeit zerstört.
eilen wollte, trat mir der Probſt entgegen. „Ich halte es für beſſer,“ ſagte er, „mit dem Kleinen hier zu übernachten und erſt morgen —“
„Der Junge wird im Wagen ſo gut wie hier im Bette ſchlafen,“ unterbrach ich ihn gereizt. „Raſch voran!“ Er ſann einen Moment und folgte mir dann, den ſchlummernden Knaben auf dem Arme.
Des Freundes ausführliche Mittheilung hatte meine Aufregung nur geſteigert. Sicherlich nicht ohne ſeine Abſicht: die Gährung ſollte vor den actuellen Eindrücken verbrauſen. Zum erſten und Gottlob einzigen Male im Leben fühlte ich mich in einem Zuſtande von, — dreiſt heraus, in einem Zuſtande von Wuth; von Wuth zunächſt gegen mich ſelbſt. Ich hätte mir das Haar ausraufen, oder die Wagenfenſter zerſchlagen, ich hätte ſchreien, oder wie ein wildes Roß mir die Adern zerbeißen mögen, um dem kochenden Blute ein Ventil zu öffnen. Ich, ich hatte dieſes ſtrafwürdige Ereigniß verſchuldet; ich die Sünde gedeckt, die Un¬ treue verheimlicht; getäuſcht die argloſen Eltern, auf deren guten Glauben hin ein Ehrenmann in ſeinem Allerheiligſten vorausſichtlich zur Stunde ſchon betrogen war. Ich, ich hatte die ſtolze Zuverſicht der eignen Seele für allezeit zerſtört.
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eilen wollte, trat mir der Probſt entgegen. „Ich halte
es für beſſer,“ ſagte er, „mit dem Kleinen hier zu
übernachten und erſt morgen —“
„Der Junge wird im Wagen ſo gut wie hier
im Bette ſchlafen,“ unterbrach ich ihn gereizt. „Raſch
voran!“ Er ſann einen Moment und folgte mir dann,
den ſchlummernden Knaben auf dem Arme.
Des Freundes ausführliche Mittheilung hatte
meine Aufregung nur geſteigert. Sicherlich nicht ohne
ſeine Abſicht: die Gährung ſollte vor den actuellen
Eindrücken verbrauſen. Zum erſten und Gottlob einzigen
Male im Leben fühlte ich mich in einem Zuſtande
von, — dreiſt heraus, in einem Zuſtande von Wuth;
von Wuth zunächſt gegen mich ſelbſt. Ich hätte mir
das Haar ausraufen, oder die Wagenfenſter zerſchlagen,
ich hätte ſchreien, oder wie ein wildes Roß mir die
Adern zerbeißen mögen, um dem kochenden Blute ein
Ventil zu öffnen. Ich, ich hatte dieſes ſtrafwürdige
Ereigniß verſchuldet; ich die Sünde gedeckt, die Un¬
treue verheimlicht; getäuſcht die argloſen Eltern, auf
deren guten Glauben hin ein Ehrenmann in ſeinem
Allerheiligſten vorausſichtlich zur Stunde ſchon betrogen
war. Ich, ich hatte die ſtolze Zuverſicht der eignen
Seele für allezeit zerſtört.
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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/98>, abgerufen am 16.02.2025.
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