Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

das mich unaufhaltsam vorwärts trieb. Hatte ich bis
heute gesagt:"Es hat Zeit!" heute sagte ich: "Es ist
Zeit!" und ich wußte ohne Besinnen, für was es
Zeit geworden war.

An jenem Morgen, Ludwig, nahm ich das längst
geahnete Wort von Deinen Lippen, und am Abend
begann ich diese Aufzeichnungen. An dem Tage aber,
an welchem ich das Kind meines Herzens für Zeit
und Ewigkeit Deiner Mannestreue übergeben hatte,
an diesem Tage schrieb ich mein Testament.

Es wird dasselbe Euch eröffnet werden, sei es in
Wochen, sei es in Jahren, an dem Morgen, nachdem
Ihr diese Blätter gelesen habt, und Ihr werdet nur
die wenigen Worte darin finden: "Die Erbin meiner
gesammten Hinterlassenschaft ist meine Pflegetochter,
Hardine Nordheim, geborene Müller."

Ich lege das Erbe der Reckenburg in die Hand
der Enkelin, wie meine Vorfahrin es in die Hand des
Ahnen gelegt haben würde. Ich lege es in die Hand
der Gattin meines bewährten Mitarbeiters. Ich lege
es aber auch in die Hand des Kindes, das in dem
einsamen Weibe die Liebe einer Mutter erweckte, und
ich lege es vor Allem in die Hand der Waise, mit
welcher der Geist der Liebe seinen Einzug in meine

das mich unaufhaltſam vorwärts trieb. Hatte ich bis
heute geſagt:„Es hat Zeit!“ heute ſagte ich: „Es iſt
Zeit!“ und ich wußte ohne Beſinnen, für was es
Zeit geworden war.

An jenem Morgen, Ludwig, nahm ich das längſt
geahnete Wort von Deinen Lippen, und am Abend
begann ich dieſe Aufzeichnungen. An dem Tage aber,
an welchem ich das Kind meines Herzens für Zeit
und Ewigkeit Deiner Mannestreue übergeben hatte,
an dieſem Tage ſchrieb ich mein Teſtament.

Es wird daſſelbe Euch eröffnet werden, ſei es in
Wochen, ſei es in Jahren, an dem Morgen, nachdem
Ihr dieſe Blätter geleſen habt, und Ihr werdet nur
die wenigen Worte darin finden: „Die Erbin meiner
geſammten Hinterlaſſenſchaft iſt meine Pflegetochter,
Hardine Nordheim, geborene Müller.“

Ich lege das Erbe der Reckenburg in die Hand
der Enkelin, wie meine Vorfahrin es in die Hand des
Ahnen gelegt haben würde. Ich lege es in die Hand
der Gattin meines bewährten Mitarbeiters. Ich lege
es aber auch in die Hand des Kindes, das in dem
einſamen Weibe die Liebe einer Mutter erweckte, und
ich lege es vor Allem in die Hand der Waiſe, mit
welcher der Geiſt der Liebe ſeinen Einzug in meine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0269" n="265"/>
das mich unaufhalt&#x017F;am vorwärts trieb. Hatte ich bis<lb/>
heute ge&#x017F;agt:&#x201E;Es hat Zeit!&#x201C; heute &#x017F;agte ich: &#x201E;Es <hi rendition="#g">i&#x017F;t</hi><lb/>
Zeit!&#x201C; und ich wußte ohne Be&#x017F;innen, für was es<lb/>
Zeit geworden war.</p><lb/>
        <p>An jenem Morgen, Ludwig, nahm ich das läng&#x017F;t<lb/>
geahnete Wort von Deinen Lippen, und am Abend<lb/>
begann ich die&#x017F;e Aufzeichnungen. An dem Tage aber,<lb/>
an welchem ich das Kind meines Herzens für Zeit<lb/>
und Ewigkeit Deiner Mannestreue übergeben hatte,<lb/>
an die&#x017F;em Tage &#x017F;chrieb ich mein Te&#x017F;tament.</p><lb/>
        <p>Es wird da&#x017F;&#x017F;elbe Euch eröffnet werden, &#x017F;ei es in<lb/>
Wochen, &#x017F;ei es in Jahren, an dem Morgen, nachdem<lb/>
Ihr die&#x017F;e Blätter gele&#x017F;en habt, und Ihr werdet nur<lb/>
die wenigen Worte darin finden: &#x201E;Die Erbin meiner<lb/>
ge&#x017F;ammten Hinterla&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft i&#x017F;t meine Pflegetochter,<lb/>
Hardine Nordheim, geborene Müller.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Ich lege das Erbe der Reckenburg in die Hand<lb/>
der Enkelin, wie meine Vorfahrin es in die Hand des<lb/>
Ahnen gelegt haben würde. Ich lege es in die Hand<lb/>
der Gattin meines bewährten Mitarbeiters. Ich lege<lb/>
es aber auch in die Hand des Kindes, das in dem<lb/>
ein&#x017F;amen Weibe die Liebe einer Mutter erweckte, und<lb/>
ich lege es <hi rendition="#g">vor Allem</hi> in die Hand der Wai&#x017F;e, mit<lb/>
welcher der Gei&#x017F;t der Liebe &#x017F;einen Einzug in meine<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[265/0269] das mich unaufhaltſam vorwärts trieb. Hatte ich bis heute geſagt:„Es hat Zeit!“ heute ſagte ich: „Es iſt Zeit!“ und ich wußte ohne Beſinnen, für was es Zeit geworden war. An jenem Morgen, Ludwig, nahm ich das längſt geahnete Wort von Deinen Lippen, und am Abend begann ich dieſe Aufzeichnungen. An dem Tage aber, an welchem ich das Kind meines Herzens für Zeit und Ewigkeit Deiner Mannestreue übergeben hatte, an dieſem Tage ſchrieb ich mein Teſtament. Es wird daſſelbe Euch eröffnet werden, ſei es in Wochen, ſei es in Jahren, an dem Morgen, nachdem Ihr dieſe Blätter geleſen habt, und Ihr werdet nur die wenigen Worte darin finden: „Die Erbin meiner geſammten Hinterlaſſenſchaft iſt meine Pflegetochter, Hardine Nordheim, geborene Müller.“ Ich lege das Erbe der Reckenburg in die Hand der Enkelin, wie meine Vorfahrin es in die Hand des Ahnen gelegt haben würde. Ich lege es in die Hand der Gattin meines bewährten Mitarbeiters. Ich lege es aber auch in die Hand des Kindes, das in dem einſamen Weibe die Liebe einer Mutter erweckte, und ich lege es vor Allem in die Hand der Waiſe, mit welcher der Geiſt der Liebe ſeinen Einzug in meine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/269
Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/269>, abgerufen am 21.11.2024.