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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

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Ludwig und Hardine zusammengeführt und die Liebe,
sagt man ja, wählt blind. Aber auch der scharfprü¬
fende Blick ihrer Beschützerin würde kaum zwei Men¬
schen gefunden haben, welche, wie diese beiden, zur
gegenseitigen Ergänzung geschaffen schienen.

So klaren Auges, von so kraftvoller Structur
und Färbung, wie die des jungen Mannes, so hoch
aufgerichtet wie ihn, würden wir uns einen leiblichen
Sprossen des Reckenburger Stammes haben vorstellen
können. So sicher seiner selbst und rasch zur That
mußte der Gehülfe sein, welchen Fräulein Hardine
sich in ihrem Amte erwählt hatte. Der frohmüthige
Gymnasiast, der schon bei der ersten Begegnung das
Herz des wandernden Invaliden gewonnen hatte, war
ein ganzer Mann geworden und ein guter Mann.

Hardine aber, wie sie sich jetzt so dicht an den
einzigen Beschützer schmiegt, dessen Schulter der weiche,
goldglänzende Scheitel kaum erreicht, jeder Blick des
großen, feuchtschimmernden Auges eine Frage, jede Bie¬
gung der anmuthigen Glieder, jede Blutwelle unter
der durchsichtigen Haut der Ausdruck eines liebebedürfti¬
gen Gemüths: so gleicht sie der jungen Birke, deren
Laub im leisesten Hauche zittert und deren zarter Schaft
zusammenknicken würde, wenn Sturm und Wetter sich

Ludwig und Hardine zuſammengeführt und die Liebe,
ſagt man ja, wählt blind. Aber auch der ſcharfprü¬
fende Blick ihrer Beſchützerin würde kaum zwei Men¬
ſchen gefunden haben, welche, wie dieſe beiden, zur
gegenſeitigen Ergänzung geſchaffen ſchienen.

So klaren Auges, von ſo kraftvoller Structur
und Färbung, wie die des jungen Mannes, ſo hoch
aufgerichtet wie ihn, würden wir uns einen leiblichen
Sproſſen des Reckenburger Stammes haben vorſtellen
können. So ſicher ſeiner ſelbſt und raſch zur That
mußte der Gehülfe ſein, welchen Fräulein Hardine
ſich in ihrem Amte erwählt hatte. Der frohmüthige
Gymnaſiaſt, der ſchon bei der erſten Begegnung das
Herz des wandernden Invaliden gewonnen hatte, war
ein ganzer Mann geworden und ein guter Mann.

Hardine aber, wie ſie ſich jetzt ſo dicht an den
einzigen Beſchützer ſchmiegt, deſſen Schulter der weiche,
goldglänzende Scheitel kaum erreicht, jeder Blick des
großen, feuchtſchimmernden Auges eine Frage, jede Bie¬
gung der anmuthigen Glieder, jede Blutwelle unter
der durchſichtigen Haut der Ausdruck eines liebebedürfti¬
gen Gemüths: ſo gleicht ſie der jungen Birke, deren
Laub im leiſeſten Hauche zittert und deren zarter Schaft
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[231/0235] Ludwig und Hardine zuſammengeführt und die Liebe, ſagt man ja, wählt blind. Aber auch der ſcharfprü¬ fende Blick ihrer Beſchützerin würde kaum zwei Men¬ ſchen gefunden haben, welche, wie dieſe beiden, zur gegenſeitigen Ergänzung geſchaffen ſchienen. So klaren Auges, von ſo kraftvoller Structur und Färbung, wie die des jungen Mannes, ſo hoch aufgerichtet wie ihn, würden wir uns einen leiblichen Sproſſen des Reckenburger Stammes haben vorſtellen können. So ſicher ſeiner ſelbſt und raſch zur That mußte der Gehülfe ſein, welchen Fräulein Hardine ſich in ihrem Amte erwählt hatte. Der frohmüthige Gymnaſiaſt, der ſchon bei der erſten Begegnung das Herz des wandernden Invaliden gewonnen hatte, war ein ganzer Mann geworden und ein guter Mann. Hardine aber, wie ſie ſich jetzt ſo dicht an den einzigen Beſchützer ſchmiegt, deſſen Schulter der weiche, goldglänzende Scheitel kaum erreicht, jeder Blick des großen, feuchtſchimmernden Auges eine Frage, jede Bie¬ gung der anmuthigen Glieder, jede Blutwelle unter der durchſichtigen Haut der Ausdruck eines liebebedürfti¬ gen Gemüths: ſo gleicht ſie der jungen Birke, deren Laub im leiſeſten Hauche zittert und deren zarter Schaft zuſammenknicken würde, wenn Sturm und Wetter ſich

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/235>, abgerufen am 19.04.2024.