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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

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Fünfunddreißig Jahre hatte ich ihn nicht gesehen
und ein fremdartiger Ausdruck von Pein und Weh
war seinen Zügen aufgeprägt; dennoch würde ich,
auch an jedem anderen Orte, ihn auf den ersten Blick
erkannt haben. Und auch seine ausgestreckte Hand
deutete an, daß er ohne Besinnen in der Matrone,
die ihm unerwartet gegenüberstand, das fünfzehnjährige
Mädchen wiedergefunden hatte. Der Lauf der Zeit
hatte in ihm wie mir keine entfremdenden Spuren
zurückgelassen; wir waren, wie man es nennt, orga¬
nisch alt geworden; ein Vorrecht derer, die nur schwach
mit dem Herzen leben.

Ich folgte seinem stummen Winke in das eigene
Zimmer. "Eine jammervolle Stunde, Fräulein Har¬
dine, in der Sie mein Haus zum ersten Male betre¬
ten!" sagte er, indem er meine Hand mit tiefer Be¬
wegung drückte.

"Hoffen Sie noch, Faber?" fragte ich, zum Vor¬
aus hoffnungslos.

Er aber antwortete: "Hoffen? ja, ich hoffe, aber
nicht auf das Leben," und als ich leise das Wort
"Hirnfieber" nannte, da sagte er: "Wenn dem so
wäre. Sie würden mich weniger rathlos finden. Nein,
kein Fieber -- --"

Louise v. Francois, Die letzte Reckenburgerin. II. 13

Fünfunddreißig Jahre hatte ich ihn nicht geſehen
und ein fremdartiger Ausdruck von Pein und Weh
war ſeinen Zügen aufgeprägt; dennoch würde ich,
auch an jedem anderen Orte, ihn auf den erſten Blick
erkannt haben. Und auch ſeine ausgeſtreckte Hand
deutete an, daß er ohne Beſinnen in der Matrone,
die ihm unerwartet gegenüberſtand, das fünfzehnjährige
Mädchen wiedergefunden hatte. Der Lauf der Zeit
hatte in ihm wie mir keine entfremdenden Spuren
zurückgelaſſen; wir waren, wie man es nennt, orga¬
niſch alt geworden; ein Vorrecht derer, die nur ſchwach
mit dem Herzen leben.

Ich folgte ſeinem ſtummen Winke in das eigene
Zimmer. „Eine jammervolle Stunde, Fräulein Har¬
dine, in der Sie mein Haus zum erſten Male betre¬
ten!“ ſagte er, indem er meine Hand mit tiefer Be¬
wegung drückte.

„Hoffen Sie noch, Faber?“ fragte ich, zum Vor¬
aus hoffnungslos.

Er aber antwortete: „Hoffen? ja, ich hoffe, aber
nicht auf das Leben,“ und als ich leiſe das Wort
„Hirnfieber“ nannte, da ſagte er: „Wenn dem ſo
wäre. Sie würden mich weniger rathlos finden. Nein,
kein Fieber — —“

Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 13
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[193/0197] Fünfunddreißig Jahre hatte ich ihn nicht geſehen und ein fremdartiger Ausdruck von Pein und Weh war ſeinen Zügen aufgeprägt; dennoch würde ich, auch an jedem anderen Orte, ihn auf den erſten Blick erkannt haben. Und auch ſeine ausgeſtreckte Hand deutete an, daß er ohne Beſinnen in der Matrone, die ihm unerwartet gegenüberſtand, das fünfzehnjährige Mädchen wiedergefunden hatte. Der Lauf der Zeit hatte in ihm wie mir keine entfremdenden Spuren zurückgelaſſen; wir waren, wie man es nennt, orga¬ niſch alt geworden; ein Vorrecht derer, die nur ſchwach mit dem Herzen leben. Ich folgte ſeinem ſtummen Winke in das eigene Zimmer. „Eine jammervolle Stunde, Fräulein Har¬ dine, in der Sie mein Haus zum erſten Male betre¬ ten!“ ſagte er, indem er meine Hand mit tiefer Be¬ wegung drückte. „Hoffen Sie noch, Faber?“ fragte ich, zum Vor¬ aus hoffnungslos. Er aber antwortete: „Hoffen? ja, ich hoffe, aber nicht auf das Leben,“ und als ich leiſe das Wort „Hirnfieber“ nannte, da ſagte er: „Wenn dem ſo wäre. Sie würden mich weniger rathlos finden. Nein, kein Fieber — —“ Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. II. 13

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/197>, abgerufen am 18.04.2024.