vielleicht weniger als mir, die er sich zu lieben ge¬ wöhnt hat. Alles das mag Selbsttäuschung sein; auch die Scheu, das ätzende Gift in eine vertrauende Seele zu gießen. Kann Eine sich selber kennen, de¬ ren ganzes Leben eine Lüge ist? So sage ich denn einfach: Ich habe nicht den Muth, die Wahrheit zu bekennen. Und dann: ich habe nicht mehr die Kraft, es zu thun. So oft ich reden will, überfällt mich der Krampf, dessen Zeugin Sie vorhin waren. Wollte ich schreiben, die Hand würde mir erstarren. Es ist keine Krankheit; es wird mich nicht tödten; ich werde alt dabei werden, oder -- oder --" Sie deutete auf die Stirn mit einem Ausdruck, der mich schaudern machte.
"Haben Sie Kinder?" fragte ich nach einer lan¬ gen Stille.
Sie schüttelte den Kopf. "Gott ist gerecht," sagte sie nach einer langen Pause. "Nein, er ist barmherzig. Ich würde keinem Kinde eine Mutter sein können."
"Und Ihr Gemahl?"
"Vermißt sie nicht, oder zeigt mir nicht, daß er sie vermißt. Er ist sehr, sehr schonend gegen mich -- und noch immer so besonders," setzte sie hinzu,
vielleicht weniger als mir, die er ſich zu lieben ge¬ wöhnt hat. Alles das mag Selbſttäuſchung ſein; auch die Scheu, das ätzende Gift in eine vertrauende Seele zu gießen. Kann Eine ſich ſelber kennen, de¬ ren ganzes Leben eine Lüge iſt? So ſage ich denn einfach: Ich habe nicht den Muth, die Wahrheit zu bekennen. Und dann: ich habe nicht mehr die Kraft, es zu thun. So oft ich reden will, überfällt mich der Krampf, deſſen Zeugin Sie vorhin waren. Wollte ich ſchreiben, die Hand würde mir erſtarren. Es iſt keine Krankheit; es wird mich nicht tödten; ich werde alt dabei werden, oder — oder —“ Sie deutete auf die Stirn mit einem Ausdruck, der mich ſchaudern machte.
„Haben Sie Kinder?“ fragte ich nach einer lan¬ gen Stille.
Sie ſchüttelte den Kopf. „Gott iſt gerecht,“ ſagte ſie nach einer langen Pauſe. „Nein, er iſt barmherzig. Ich würde keinem Kinde eine Mutter ſein können.“
„Und Ihr Gemahl?“
„Vermißt ſie nicht, oder zeigt mir nicht, daß er ſie vermißt. Er iſt ſehr, ſehr ſchonend gegen mich — und noch immer ſo beſonders,“ ſetzte ſie hinzu,
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vielleicht weniger als mir, die er ſich zu lieben ge¬
wöhnt hat. Alles das mag Selbſttäuſchung ſein;
auch die Scheu, das ätzende Gift in eine vertrauende
Seele zu gießen. Kann Eine ſich ſelber kennen, de¬
ren ganzes Leben eine Lüge iſt? So ſage ich denn
einfach: Ich habe nicht den Muth, die Wahrheit zu
bekennen. Und dann: ich habe nicht mehr die Kraft,
es zu thun. So oft ich reden will, überfällt mich
der Krampf, deſſen Zeugin Sie vorhin waren. Wollte
ich ſchreiben, die Hand würde mir erſtarren. Es iſt
keine Krankheit; es wird mich nicht tödten; ich werde
alt dabei werden, oder — oder —“ Sie deutete auf
die Stirn mit einem Ausdruck, der mich ſchaudern
machte.
„Haben Sie Kinder?“ fragte ich nach einer lan¬
gen Stille.
Sie ſchüttelte den Kopf. „Gott iſt gerecht,“
ſagte ſie nach einer langen Pauſe. „Nein, er iſt
barmherzig. Ich würde keinem Kinde eine Mutter
ſein können.“
„Und Ihr Gemahl?“
„Vermißt ſie nicht, oder zeigt mir nicht, daß er
ſie vermißt. Er iſt ſehr, ſehr ſchonend gegen mich
— und noch immer ſo beſonders,“ ſetzte ſie hinzu,
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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/139>, abgerufen am 16.02.2025.
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