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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

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liche und menschliche Tugend, die Wahrhaftigkeit, das
matte Gewissen zum Leben rütteln."

"Und haben Sie, meine muthige, junge Freun¬
din, nicht gerathen, nicht gewarnt, nicht das Gewissen
zur Wahrhaftigkeit aufgerüttelt, Sie, die von allen
Menschen die stärkste Macht über dieses Kind geübt
haben und in einer Zeit der Gleichgültigkeit, ja mehr
als dieser, gegen den Mann, dem sie die Wahrheit
schuldete? Und mit welchem Erfolg? Heute aber, in
der letzten Stunde, am Vorabend der Trauung, wo
alles Sinnen und Trachten des beweglichen Herzens
nur gegen die Gefahr eines Widerspruchs gerichtet ist --"

"Hätten Sie im äußersten Falle das äußerste
Mittel nicht scheuen dürfen."

Der Freund faßte nach einer kleinen Stille sanft
meine Hand und sprach: "Fordern Sie, mein liebes
Kind, von einem alten Manne nicht eine That, die
das Maaß seiner Anlagen überschreitet, und für die
er, mißräth sie, sich und Anderen kein Heilmittel zu
bieten hat. Und wenn das Aeußerste nun zum Aeußersten
geführt hätte? Wenn das schwache Geschöpf, -- eben
weil es schwach ist, Fräulein Hardine, -- gebrand¬
markt vor der Welt und vor dem Manne, der im
Augenblick all sein Begehren gefangen nimmt, in tödt¬

liche und menſchliche Tugend, die Wahrhaftigkeit, das
matte Gewiſſen zum Leben rütteln.“

„Und haben Sie, meine muthige, junge Freun¬
din, nicht gerathen, nicht gewarnt, nicht das Gewiſſen
zur Wahrhaftigkeit aufgerüttelt, Sie, die von allen
Menſchen die ſtärkſte Macht über dieſes Kind geübt
haben und in einer Zeit der Gleichgültigkeit, ja mehr
als dieſer, gegen den Mann, dem ſie die Wahrheit
ſchuldete? Und mit welchem Erfolg? Heute aber, in
der letzten Stunde, am Vorabend der Trauung, wo
alles Sinnen und Trachten des beweglichen Herzens
nur gegen die Gefahr eines Widerſpruchs gerichtet iſt —“

„Hätten Sie im äußerſten Falle das äußerſte
Mittel nicht ſcheuen dürfen.“

Der Freund faßte nach einer kleinen Stille ſanft
meine Hand und ſprach: „Fordern Sie, mein liebes
Kind, von einem alten Manne nicht eine That, die
das Maaß ſeiner Anlagen überſchreitet, und für die
er, mißräth ſie, ſich und Anderen kein Heilmittel zu
bieten hat. Und wenn das Aeußerſte nun zum Aeußerſten
geführt hätte? Wenn das ſchwache Geſchöpf, — eben
weil es ſchwach iſt, Fräulein Hardine, — gebrand¬
markt vor der Welt und vor dem Manne, der im
Augenblick all ſein Begehren gefangen nimmt, in tödt¬

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[96/0100] liche und menſchliche Tugend, die Wahrhaftigkeit, das matte Gewiſſen zum Leben rütteln.“ „Und haben Sie, meine muthige, junge Freun¬ din, nicht gerathen, nicht gewarnt, nicht das Gewiſſen zur Wahrhaftigkeit aufgerüttelt, Sie, die von allen Menſchen die ſtärkſte Macht über dieſes Kind geübt haben und in einer Zeit der Gleichgültigkeit, ja mehr als dieſer, gegen den Mann, dem ſie die Wahrheit ſchuldete? Und mit welchem Erfolg? Heute aber, in der letzten Stunde, am Vorabend der Trauung, wo alles Sinnen und Trachten des beweglichen Herzens nur gegen die Gefahr eines Widerſpruchs gerichtet iſt —“ „Hätten Sie im äußerſten Falle das äußerſte Mittel nicht ſcheuen dürfen.“ Der Freund faßte nach einer kleinen Stille ſanft meine Hand und ſprach: „Fordern Sie, mein liebes Kind, von einem alten Manne nicht eine That, die das Maaß ſeiner Anlagen überſchreitet, und für die er, mißräth ſie, ſich und Anderen kein Heilmittel zu bieten hat. Und wenn das Aeußerſte nun zum Aeußerſten geführt hätte? Wenn das ſchwache Geſchöpf, — eben weil es ſchwach iſt, Fräulein Hardine, — gebrand¬ markt vor der Welt und vor dem Manne, der im Augenblick all ſein Begehren gefangen nimmt, in tödt¬

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/100>, abgerufen am 24.04.2024.