wollen, und wir wissen es schon, sie galt auch nicht dafür. Aber wäre es selber für Fräulein Hardinen etwas Unnatürliches gewesen, eine hülflose Waise in einer öffentlichen Anstalt zu versorgen und zu über¬ wachen? Oder wäre, selber für Fräulein Hardinen, eine mitleidige, vielleicht vorwurfsvolle Erschütterung so schwer zu begreifen, wenn ein Schützling aus der Jugendzeit uns im Alter plötzlich als eine untergegan¬ gene Creatur gegenübertritt? Sie brauchte nur einen Namen zu nennen, nur die Herkunft des Waisenkna¬ ben zu erklären, und der Sturm im Wasserglase legte sich.
Aber Fräulein Hardine nannte diesen Namen, gab diese Erklärung nicht. Die guten Freunde schmach¬ teten nach dem Labsal eines Worts, -- aus reinster Sorge für den Ruf der edlen Dame, wie sich wiederum von selbst versteht, -- und sie schwieg vor wie nach. Fürwahr, Fräulein Hardine war keine mitleidige Na¬ tur, nicht einmal gegen sich selbst. Weder jetzt, noch später hat sie der verhängnißvollen Begegnung am Königsfeste gegen irgend einen Menschen erwähnt.
Nach vielen Jahren jedoch und für einen be¬ stimmten Zweck, richtiger, für eine bestimmte Person, hat sie ihren Lebenslauf niedergeschrieben, und darin
Louise v. Francois, Die letzte Reckenburgerin. I. 6
wollen, und wir wiſſen es ſchon, ſie galt auch nicht dafür. Aber wäre es ſelber für Fräulein Hardinen etwas Unnatürliches geweſen, eine hülfloſe Waiſe in einer öffentlichen Anſtalt zu verſorgen und zu über¬ wachen? Oder wäre, ſelber für Fräulein Hardinen, eine mitleidige, vielleicht vorwurfsvolle Erſchütterung ſo ſchwer zu begreifen, wenn ein Schützling aus der Jugendzeit uns im Alter plötzlich als eine untergegan¬ gene Creatur gegenübertritt? Sie brauchte nur einen Namen zu nennen, nur die Herkunft des Waiſenkna¬ ben zu erklären, und der Sturm im Waſſerglaſe legte ſich.
Aber Fräulein Hardine nannte dieſen Namen, gab dieſe Erklärung nicht. Die guten Freunde ſchmach¬ teten nach dem Labſal eines Worts, — aus reinſter Sorge für den Ruf der edlen Dame, wie ſich wiederum von ſelbſt verſteht, — und ſie ſchwieg vor wie nach. Fürwahr, Fräulein Hardine war keine mitleidige Na¬ tur, nicht einmal gegen ſich ſelbſt. Weder jetzt, noch ſpäter hat ſie der verhängnißvollen Begegnung am Königsfeſte gegen irgend einen Menſchen erwähnt.
Nach vielen Jahren jedoch und für einen be¬ ſtimmten Zweck, richtiger, für eine beſtimmte Perſon, hat ſie ihren Lebenslauf niedergeſchrieben, und darin
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 6
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wollen, und wir wiſſen es ſchon, ſie galt auch nicht
dafür. Aber wäre es ſelber für Fräulein Hardinen
etwas Unnatürliches geweſen, eine hülfloſe Waiſe in
einer öffentlichen Anſtalt zu verſorgen und zu über¬
wachen? Oder wäre, ſelber für Fräulein Hardinen,
eine mitleidige, vielleicht vorwurfsvolle Erſchütterung
ſo ſchwer zu begreifen, wenn ein Schützling aus der
Jugendzeit uns im Alter plötzlich als eine untergegan¬
gene Creatur gegenübertritt? Sie brauchte nur einen
Namen zu nennen, nur die Herkunft des Waiſenkna¬
ben zu erklären, und der Sturm im Waſſerglaſe
legte ſich.
Aber Fräulein Hardine nannte dieſen Namen,
gab dieſe Erklärung nicht. Die guten Freunde ſchmach¬
teten nach dem Labſal eines Worts, — aus reinſter
Sorge für den Ruf der edlen Dame, wie ſich wiederum
von ſelbſt verſteht, — und ſie ſchwieg vor wie nach.
Fürwahr, Fräulein Hardine war keine mitleidige Na¬
tur, nicht einmal gegen ſich ſelbſt. Weder jetzt, noch
ſpäter hat ſie der verhängnißvollen Begegnung am
Königsfeſte gegen irgend einen Menſchen erwähnt.
Nach vielen Jahren jedoch und für einen be¬
ſtimmten Zweck, richtiger, für eine beſtimmte Perſon,
hat ſie ihren Lebenslauf niedergeſchrieben, und darin
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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/88>, abgerufen am 08.07.2024.
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