und rief barsch: "Wach auf, Schlafmütze! Jetzt geht's zu Deiner Großmutter Hardine!"
"Zu meiner Großmutter Hardine!" lallte das Kind wie in einem fortgesetzten Traum.
So wanderten sie Hand in Hand voran. Die Füße des Invaliden schwankten und seine Brust keuchte beklemmt. Warum eigentlich? Ohne eine merkliche Spur hatte er häufig das Doppelte zu sich genommen. Freilich der Tag war heiß gewesen, die Wanderung weit und die Aufregung gewaltig. Es währte eine Weile, bevor er das Gitterthor erreichte, auf welchem ein vergoldetes Doppelwappen im letzten Sonnenschein funkelte. Im Hintergrund einer langen, breiten Rüsternallee präsentirte sich das Schloß auf erhöhter Terrasse; zu beiden Seiten der Avenue dehnte sich bis zum Waldessaume der Garten, linealgerecht durch hohe Buchenhecken abgetheilt. Goldgelbe Pfade schlän¬ gelten sich zwischen den vielgestaltigen Schnörkelbeeten, auf denen hinter einem Einfaß von Bux und bunten Perlenringeln zwar keine Blumen, aber kunstvoll dressirte Baumfiguren in die Höhe wuchsen. Weiße Marmorbilder, deren Structur sich gar nicht übel mit den Pflanzungen dieses Ziergartens vertrug, ragten längs der Heckenwände, umschichtig mit gar verwunder¬
und rief barſch: „Wach auf, Schlafmütze! Jetzt geht's zu Deiner Großmutter Hardine!“
„Zu meiner Großmutter Hardine!“ lallte das Kind wie in einem fortgeſetzten Traum.
So wanderten ſie Hand in Hand voran. Die Füße des Invaliden ſchwankten und ſeine Bruſt keuchte beklemmt. Warum eigentlich? Ohne eine merkliche Spur hatte er häufig das Doppelte zu ſich genommen. Freilich der Tag war heiß geweſen, die Wanderung weit und die Aufregung gewaltig. Es währte eine Weile, bevor er das Gitterthor erreichte, auf welchem ein vergoldetes Doppelwappen im letzten Sonnenſchein funkelte. Im Hintergrund einer langen, breiten Rüſternallee präſentirte ſich das Schloß auf erhöhter Terraſſe; zu beiden Seiten der Avenue dehnte ſich bis zum Waldesſaume der Garten, linealgerecht durch hohe Buchenhecken abgetheilt. Goldgelbe Pfade ſchlän¬ gelten ſich zwiſchen den vielgeſtaltigen Schnörkelbeeten, auf denen hinter einem Einfaß von Bux und bunten Perlenringeln zwar keine Blumen, aber kunſtvoll dreſſirte Baumfiguren in die Höhe wuchſen. Weiße Marmorbilder, deren Structur ſich gar nicht übel mit den Pflanzungen dieſes Ziergartens vertrug, ragten längs der Heckenwände, umſchichtig mit gar verwunder¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0077"n="70"/>
und rief barſch: „Wach auf, Schlafmütze! Jetzt geht's<lb/>
zu Deiner Großmutter Hardine!“</p><lb/><p>„Zu meiner Großmutter Hardine!“ lallte das<lb/>
Kind wie in einem fortgeſetzten Traum.</p><lb/><p>So wanderten ſie Hand in Hand voran. Die<lb/>
Füße des Invaliden ſchwankten und ſeine Bruſt keuchte<lb/>
beklemmt. Warum eigentlich? Ohne eine merkliche<lb/>
Spur hatte er häufig das Doppelte zu ſich genommen.<lb/>
Freilich der Tag war heiß geweſen, die Wanderung<lb/>
weit und die Aufregung gewaltig. Es währte eine<lb/>
Weile, bevor er das Gitterthor erreichte, auf welchem<lb/>
ein vergoldetes Doppelwappen im letzten Sonnenſchein<lb/>
funkelte. Im Hintergrund einer langen, breiten<lb/>
Rüſternallee präſentirte ſich das Schloß auf erhöhter<lb/>
Terraſſe; zu beiden Seiten der Avenue dehnte ſich bis<lb/>
zum Waldesſaume der Garten, linealgerecht durch<lb/>
hohe Buchenhecken abgetheilt. Goldgelbe Pfade ſchlän¬<lb/>
gelten ſich zwiſchen den vielgeſtaltigen Schnörkelbeeten,<lb/>
auf denen hinter einem Einfaß von Bux und bunten<lb/>
Perlenringeln zwar keine Blumen, aber kunſtvoll<lb/>
dreſſirte Baumfiguren in die Höhe wuchſen. Weiße<lb/>
Marmorbilder, deren Structur ſich gar nicht übel mit<lb/>
den Pflanzungen dieſes Ziergartens vertrug, ragten<lb/>
längs der Heckenwände, umſchichtig mit gar verwunder¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[70/0077]
und rief barſch: „Wach auf, Schlafmütze! Jetzt geht's
zu Deiner Großmutter Hardine!“
„Zu meiner Großmutter Hardine!“ lallte das
Kind wie in einem fortgeſetzten Traum.
So wanderten ſie Hand in Hand voran. Die
Füße des Invaliden ſchwankten und ſeine Bruſt keuchte
beklemmt. Warum eigentlich? Ohne eine merkliche
Spur hatte er häufig das Doppelte zu ſich genommen.
Freilich der Tag war heiß geweſen, die Wanderung
weit und die Aufregung gewaltig. Es währte eine
Weile, bevor er das Gitterthor erreichte, auf welchem
ein vergoldetes Doppelwappen im letzten Sonnenſchein
funkelte. Im Hintergrund einer langen, breiten
Rüſternallee präſentirte ſich das Schloß auf erhöhter
Terraſſe; zu beiden Seiten der Avenue dehnte ſich bis
zum Waldesſaume der Garten, linealgerecht durch
hohe Buchenhecken abgetheilt. Goldgelbe Pfade ſchlän¬
gelten ſich zwiſchen den vielgeſtaltigen Schnörkelbeeten,
auf denen hinter einem Einfaß von Bux und bunten
Perlenringeln zwar keine Blumen, aber kunſtvoll
dreſſirte Baumfiguren in die Höhe wuchſen. Weiße
Marmorbilder, deren Structur ſich gar nicht übel mit
den Pflanzungen dieſes Ziergartens vertrug, ragten
längs der Heckenwände, umſchichtig mit gar verwunder¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/77>, abgerufen am 31.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.