von ihr ab und starrte geradeaus in den Spiegel, der auf meinem Nachttische stand. Und dieser Spiegel¬ blick löste den Bann. Denn was heißt denn gerecht sein, als richtig sehen? Ich aber sah in dem engen Rahmen das Freifräulein von Reckenburg in seinem hohen Toupet und steifen Brocat, die mannshohe Ge¬ stalt, mit dem hochgerötheten Gesicht, zu der die welt¬ kundige Greisin gesagt hatte: "Du entzündest kein jun¬ ges Herz." In ihrem Schoße aber lag, vom golde¬ nen Lockenschleier umhüllt, ein Kind mit allen Reizen des Weibes, mit pulsirender Gluth und auf der Stirn den Stempel: "Dir wird kein junges Herz wider¬ stehen."
Nach langer Pause und einem tiefen Athemzuge senkte ich den Blick von dem Spiegelbilde hinab in den Schoß. "Gut sein, gut sein!" flüsterte die Zau¬ berin und ihre Lippen brannten auf meiner Hand, heiß von dem Leben, den eines Anderen Athem dem Busen eingehaucht hatte.
"Du hast Dich hinreißen lassen, Dorothee," sagte ich, indem ich sie in die Höhe zog und mich erhob. "Wenn es Dir aber leid ist --"
"Leid?" rief sie, erbebend unter dem Schauer des ersten, kaum geahnten Glücks. "Leid? Nein, o
von ihr ab und ſtarrte geradeaus in den Spiegel, der auf meinem Nachttiſche ſtand. Und dieſer Spiegel¬ blick löſte den Bann. Denn was heißt denn gerecht ſein, als richtig ſehen? Ich aber ſah in dem engen Rahmen das Freifräulein von Reckenburg in ſeinem hohen Toupet und ſteifen Brocat, die mannshohe Ge¬ ſtalt, mit dem hochgerötheten Geſicht, zu der die welt¬ kundige Greiſin geſagt hatte: „Du entzündeſt kein jun¬ ges Herz.“ In ihrem Schoße aber lag, vom golde¬ nen Lockenſchleier umhüllt, ein Kind mit allen Reizen des Weibes, mit pulſirender Gluth und auf der Stirn den Stempel: „Dir wird kein junges Herz wider¬ ſtehen.“
Nach langer Pauſe und einem tiefen Athemzuge ſenkte ich den Blick von dem Spiegelbilde hinab in den Schoß. „Gut ſein, gut ſein!“ flüſterte die Zau¬ berin und ihre Lippen brannten auf meiner Hand, heiß von dem Leben, den eines Anderen Athem dem Buſen eingehaucht hatte.
„Du haſt Dich hinreißen laſſen, Dorothee,“ ſagte ich, indem ich ſie in die Höhe zog und mich erhob. „Wenn es Dir aber leid iſt —“
„Leid?“ rief ſie, erbebend unter dem Schauer des erſten, kaum geahnten Glücks. „Leid? Nein, o
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auf meinem Nachttiſche ſtand. Und dieſer Spiegel¬
blick löſte den Bann. Denn was heißt denn gerecht
ſein, als richtig ſehen? Ich aber ſah in dem engen
Rahmen das Freifräulein von Reckenburg in ſeinem
hohen Toupet und ſteifen Brocat, die mannshohe Ge¬
ſtalt, mit dem hochgerötheten Geſicht, zu der die welt¬
kundige Greiſin geſagt hatte: „Du entzündeſt kein jun¬
ges Herz.“ In ihrem Schoße aber lag, vom golde¬
nen Lockenſchleier umhüllt, ein Kind mit allen Reizen
des Weibes, mit pulſirender Gluth und auf der Stirn
den Stempel: „Dir wird kein junges Herz wider¬
ſtehen.“
Nach langer Pauſe und einem tiefen Athemzuge
ſenkte ich den Blick von dem Spiegelbilde hinab in
den Schoß. „Gut ſein, gut ſein!“ flüſterte die Zau¬
berin und ihre Lippen brannten auf meiner Hand,
heiß von dem Leben, den eines Anderen Athem dem
Buſen eingehaucht hatte.
„Du haſt Dich hinreißen laſſen, Dorothee,“ ſagte
ich, indem ich ſie in die Höhe zog und mich erhob.
„Wenn es Dir aber leid iſt —“
„Leid?“ rief ſie, erbebend unter dem Schauer
des erſten, kaum geahnten Glücks. „Leid? Nein, o
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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/256>, abgerufen am 31.07.2024.
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