rung, aber selber eine dankbare Empfindung ward nicht herausgefordert, denn ich leistete ihr mehr, als sie gewährte, und ich leistete es ohne Eigennutz. Ge¬ liebt habe ich die einzige Verwandtin so wenig, als sie mich. Zwischen dem alten Idealisten im Pfarrhause und der alten Realistin im Thurm entwickelte sich die Jungfrau als ein herzensarmes Ding, so, ja mehr noch, wie vordem das Kind in der Schulstube Christ¬ lieb Taube's, neben der kleinen reizenden Dorl.
Als die vorausbestimmte Zeit meiner Heimreise heranrückte, machte die Gräfin mir und den Eltern den Vorschlag meiner Rückkehr im nächsten Winter. Sie sprach ihn aus in weniger herablassender Form, aber doch nur als eine Gunst, keineswegs als einen Wunsch. "Wie Du einmal bist," sagte sie, "ist es gut für Dich, der kleinstädtischen Beschränkung Dei¬ nes Vaterhauses zeitweise entrückt zu werden und Dich in einer größeren Lebensordnung bewegen zu lernen."
Verlockender war die Einladung, welche an die wiederholentlich bewährte Leibpflegerin, "Madame Mül¬ lerin", erging. Sie sollte zwar während des Som¬ mers, der guten gräflichen Saison, mich in die Hei¬ math zurückbegleiten, zum Herbst aber mit mir wie¬
rung, aber ſelber eine dankbare Empfindung ward nicht herausgefordert, denn ich leiſtete ihr mehr, als ſie gewährte, und ich leiſtete es ohne Eigennutz. Ge¬ liebt habe ich die einzige Verwandtin ſo wenig, als ſie mich. Zwiſchen dem alten Idealiſten im Pfarrhauſe und der alten Realiſtin im Thurm entwickelte ſich die Jungfrau als ein herzensarmes Ding, ſo, ja mehr noch, wie vordem das Kind in der Schulſtube Chriſt¬ lieb Taube's, neben der kleinen reizenden Dorl.
Als die vorausbeſtimmte Zeit meiner Heimreiſe heranrückte, machte die Gräfin mir und den Eltern den Vorſchlag meiner Rückkehr im nächſten Winter. Sie ſprach ihn aus in weniger herablaſſender Form, aber doch nur als eine Gunſt, keineswegs als einen Wunſch. „Wie Du einmal biſt,“ ſagte ſie, „iſt es gut für Dich, der kleinſtädtiſchen Beſchränkung Dei¬ nes Vaterhauſes zeitweiſe entrückt zu werden und Dich in einer größeren Lebensordnung bewegen zu lernen.“
Verlockender war die Einladung, welche an die wiederholentlich bewährte Leibpflegerin, „Madame Mül¬ lerin“, erging. Sie ſollte zwar während des Som¬ mers, der guten gräflichen Saiſon, mich in die Hei¬ math zurückbegleiten, zum Herbſt aber mit mir wie¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0208"n="201"/>
rung, aber ſelber eine dankbare Empfindung ward<lb/>
nicht herausgefordert, denn ich leiſtete ihr mehr, als<lb/>ſie gewährte, und ich leiſtete es ohne Eigennutz. Ge¬<lb/>
liebt habe ich die einzige Verwandtin ſo wenig, als ſie<lb/>
mich. Zwiſchen dem alten Idealiſten im Pfarrhauſe<lb/>
und der alten Realiſtin im Thurm entwickelte ſich die<lb/>
Jungfrau als ein herzensarmes Ding, ſo, ja mehr<lb/>
noch, wie vordem das Kind in der Schulſtube Chriſt¬<lb/>
lieb Taube's, neben der kleinen reizenden Dorl.</p><lb/><p>Als die vorausbeſtimmte Zeit meiner Heimreiſe<lb/>
heranrückte, machte die Gräfin mir und den Eltern<lb/>
den Vorſchlag meiner Rückkehr im nächſten Winter.<lb/>
Sie ſprach ihn aus in weniger herablaſſender Form,<lb/>
aber doch nur als eine Gunſt, keineswegs als einen<lb/>
Wunſch. „Wie Du einmal biſt,“ſagte ſie, „iſt es<lb/>
gut für Dich, der kleinſtädtiſchen Beſchränkung Dei¬<lb/>
nes Vaterhauſes zeitweiſe entrückt zu werden und<lb/>
Dich in einer größeren Lebensordnung bewegen zu<lb/>
lernen.“</p><lb/><p>Verlockender war die Einladung, welche an die<lb/>
wiederholentlich bewährte Leibpflegerin, „Madame Mül¬<lb/>
lerin“, erging. Sie ſollte zwar während des Som¬<lb/>
mers, der guten gräflichen Saiſon, mich in die Hei¬<lb/>
math zurückbegleiten, zum Herbſt aber mit mir wie¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[201/0208]
rung, aber ſelber eine dankbare Empfindung ward
nicht herausgefordert, denn ich leiſtete ihr mehr, als
ſie gewährte, und ich leiſtete es ohne Eigennutz. Ge¬
liebt habe ich die einzige Verwandtin ſo wenig, als ſie
mich. Zwiſchen dem alten Idealiſten im Pfarrhauſe
und der alten Realiſtin im Thurm entwickelte ſich die
Jungfrau als ein herzensarmes Ding, ſo, ja mehr
noch, wie vordem das Kind in der Schulſtube Chriſt¬
lieb Taube's, neben der kleinen reizenden Dorl.
Als die vorausbeſtimmte Zeit meiner Heimreiſe
heranrückte, machte die Gräfin mir und den Eltern
den Vorſchlag meiner Rückkehr im nächſten Winter.
Sie ſprach ihn aus in weniger herablaſſender Form,
aber doch nur als eine Gunſt, keineswegs als einen
Wunſch. „Wie Du einmal biſt,“ ſagte ſie, „iſt es
gut für Dich, der kleinſtädtiſchen Beſchränkung Dei¬
nes Vaterhauſes zeitweiſe entrückt zu werden und
Dich in einer größeren Lebensordnung bewegen zu
lernen.“
Verlockender war die Einladung, welche an die
wiederholentlich bewährte Leibpflegerin, „Madame Mül¬
lerin“, erging. Sie ſollte zwar während des Som¬
mers, der guten gräflichen Saiſon, mich in die Hei¬
math zurückbegleiten, zum Herbſt aber mit mir wie¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/208>, abgerufen am 31.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.