die scharfblickende Frau so lange verblendet hatte? Ob sie nicht freiwillig die Augen geschlossen, so lange ein Tropfen in ihrem Freudenkelche übrig blieb? Ich glaube das letztere. Sie würde mit diesem Manne, sie würde für ihn gedarbt, ja sie würde seine Untreue geduldet haben, wenn er an ihrer Seite zu bannen gewesen wäre. Aber die goldenen Ketten, mit welchen die alternde Schöne den verwöhnten Lüstling gefesselt hatte, sie sah sie geschmolzen. Kein Jahr mehr dieses schrankenlose Treiben und sie war eine verlassene Bettlerin. So willigte sie denn in eine Scheidung als den einzigen Weg, nicht etwa den bisherigen Glanz, sondern einfach ihre Existenzmittel zu retten. Der flottlebige Herr jubelte über eine Freiheit, die ihm ge¬ stattete, seine Wünschelruthe nach einem neuen Glücks¬ born auszuwerfen.
Während er nun in Italien und Rußland, den beiden Pflegestätten prinzlicher wie plebejer Abenteurer jener Zeit, das unstäte Treiben seiner Jugendjahre erneuerte, heute Soldat und morgen Seladon, gestaltete die Gräfin ihren ferneren Lebenslauf um so stätiger. Sie zählte mehr als vierzig Jahre, war nicht mehr schön und, nach ihrem Maaßstabe, arm. Was Wun¬ der, daß ihr die Welt verleidet, ja daß sie ihr verhaßt
die ſcharfblickende Frau ſo lange verblendet hatte? Ob ſie nicht freiwillig die Augen geſchloſſen, ſo lange ein Tropfen in ihrem Freudenkelche übrig blieb? Ich glaube das letztere. Sie würde mit dieſem Manne, ſie würde für ihn gedarbt, ja ſie würde ſeine Untreue geduldet haben, wenn er an ihrer Seite zu bannen geweſen wäre. Aber die goldenen Ketten, mit welchen die alternde Schöne den verwöhnten Lüſtling gefeſſelt hatte, ſie ſah ſie geſchmolzen. Kein Jahr mehr dieſes ſchrankenloſe Treiben und ſie war eine verlaſſene Bettlerin. So willigte ſie denn in eine Scheidung als den einzigen Weg, nicht etwa den bisherigen Glanz, ſondern einfach ihre Exiſtenzmittel zu retten. Der flottlebige Herr jubelte über eine Freiheit, die ihm ge¬ ſtattete, ſeine Wünſchelruthe nach einem neuen Glücks¬ born auszuwerfen.
Während er nun in Italien und Rußland, den beiden Pflegeſtätten prinzlicher wie plebejer Abenteurer jener Zeit, das unſtäte Treiben ſeiner Jugendjahre erneuerte, heute Soldat und morgen Seladon, geſtaltete die Gräfin ihren ferneren Lebenslauf um ſo ſtätiger. Sie zählte mehr als vierzig Jahre, war nicht mehr ſchön und, nach ihrem Maaßſtabe, arm. Was Wun¬ der, daß ihr die Welt verleidet, ja daß ſie ihr verhaßt
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0174"n="167"/>
die ſcharfblickende Frau ſo lange verblendet hatte? Ob<lb/>ſie nicht freiwillig die Augen geſchloſſen, ſo lange ein<lb/>
Tropfen in ihrem Freudenkelche übrig blieb? Ich<lb/>
glaube das letztere. Sie würde mit dieſem Manne,<lb/>ſie würde für ihn gedarbt, ja ſie würde ſeine Untreue<lb/>
geduldet haben, wenn er an ihrer Seite zu bannen<lb/>
geweſen wäre. Aber die goldenen Ketten, mit welchen<lb/>
die alternde Schöne den verwöhnten Lüſtling gefeſſelt<lb/>
hatte, ſie ſah ſie geſchmolzen. Kein Jahr mehr dieſes<lb/>ſchrankenloſe Treiben und ſie war eine verlaſſene<lb/>
Bettlerin. So willigte ſie denn in eine Scheidung<lb/>
als den einzigen Weg, nicht etwa den bisherigen Glanz,<lb/>ſondern einfach ihre Exiſtenzmittel zu retten. Der<lb/>
flottlebige Herr jubelte über eine Freiheit, die ihm ge¬<lb/>ſtattete, ſeine Wünſchelruthe nach einem neuen Glücks¬<lb/>
born auszuwerfen.</p><lb/><p>Während er nun in Italien und Rußland, den<lb/>
beiden Pflegeſtätten prinzlicher wie plebejer Abenteurer<lb/>
jener Zeit, das unſtäte Treiben ſeiner Jugendjahre<lb/>
erneuerte, heute Soldat und morgen Seladon, geſtaltete<lb/>
die Gräfin ihren ferneren Lebenslauf um ſo ſtätiger.<lb/>
Sie zählte mehr als vierzig Jahre, war nicht mehr<lb/>ſchön und, nach ihrem Maaßſtabe, arm. Was Wun¬<lb/>
der, daß ihr die Welt verleidet, ja daß ſie ihr verhaßt<lb/></p></div></body></text></TEI>
[167/0174]
die ſcharfblickende Frau ſo lange verblendet hatte? Ob
ſie nicht freiwillig die Augen geſchloſſen, ſo lange ein
Tropfen in ihrem Freudenkelche übrig blieb? Ich
glaube das letztere. Sie würde mit dieſem Manne,
ſie würde für ihn gedarbt, ja ſie würde ſeine Untreue
geduldet haben, wenn er an ihrer Seite zu bannen
geweſen wäre. Aber die goldenen Ketten, mit welchen
die alternde Schöne den verwöhnten Lüſtling gefeſſelt
hatte, ſie ſah ſie geſchmolzen. Kein Jahr mehr dieſes
ſchrankenloſe Treiben und ſie war eine verlaſſene
Bettlerin. So willigte ſie denn in eine Scheidung
als den einzigen Weg, nicht etwa den bisherigen Glanz,
ſondern einfach ihre Exiſtenzmittel zu retten. Der
flottlebige Herr jubelte über eine Freiheit, die ihm ge¬
ſtattete, ſeine Wünſchelruthe nach einem neuen Glücks¬
born auszuwerfen.
Während er nun in Italien und Rußland, den
beiden Pflegeſtätten prinzlicher wie plebejer Abenteurer
jener Zeit, das unſtäte Treiben ſeiner Jugendjahre
erneuerte, heute Soldat und morgen Seladon, geſtaltete
die Gräfin ihren ferneren Lebenslauf um ſo ſtätiger.
Sie zählte mehr als vierzig Jahre, war nicht mehr
ſchön und, nach ihrem Maaßſtabe, arm. Was Wun¬
der, daß ihr die Welt verleidet, ja daß ſie ihr verhaßt
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/174>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.