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Forster, Georg: Johann Reinhold Forster's [...] Reise um die Welt. Bd. 2. Berlin, 1780.

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in den Jahren 1772 bis 1775.
eine große Niederlage angerichtet hätten und sehr starke Leute gewesen; daß aber1774.
April.

diese schon seit langer Zeit gänzlich ausgestorben wären. O-Mai, mit dem
ich nach unsrer Zurücktunft in England hievon sprach, bekräftigte die Aussage
seiner Landsleute in den stärksten Ausdrücken. Mir dünkt dieser Umstand in der
alten Geschichte von Tahiti gegründet zu seyn; nicht als wollte ich daraus fol-
gern, daß nur zufälligerweise einige Cannibalen auf der Insel gelandet und die
Einwohner mit ihren Streifereyen geplagt hätten; sondern ich glaube vielmehr,
daß der ursprüngliche Zustand des ganzen Volks in dieser Tradition verborgen
liegt, und daß alle Tahitier Menschenfresser gewesen sind, ehe sie durch die Vortref-
lichkeit des Landes und des Clima, imgleichen durch den Ueberfluß guter Nah-
rungsmittel gesitteter geworden. So sonderbar es scheinen mag, so gewiß ist
es doch, daß fast alle Völker, in den allerältesten Zeiten, Cannibalen gewesen sind.
Auf Tahiti trist man noch heut zu Tage Spuren davon. Capitain Cook fand
bey seiner ersten Reise hieher, in einem Hause funfzehn frische Kinnladen aufge-
hangen.*) Sollten dieses nicht Siegeszeichen von ihren Feinden gewesen seyn?

Am folgenden Morgen ward ein Tahitier, der bey den Zelten ein
Wasserfaß stehlen wollen, ertappt und gefangen gesetzt. O-Tuh und Tohah
die etwas früh an Bord kamen, und hörten, was vorgegangen war, begleiteten den
Capitain Cook ans Land, um die Bestrafung des Diebes mit anzusehn. Er
ward an einen Pfahl gebunden und bekam mit ihrer Genehmigung vier und
zwanzig tüchtige Hiebe. Diese Execution jagte den häufig dabey versamleten
Indianern ein solches Schrecken ein, daß sie anfiengen davon zu laufen. Tohah
aber rief sie zurück und zeigte ihnen in einer Anrede, die 4 bis 5 Minuten dauerte,
daß unsre Bestrafung des Diebstahls billig und nothwendig sey. Er stellte ih-
nen vor, daß wir bey aller unsrer Macht weder stöhlen, noch Gewalt
brauchten; daß wir vielmehr alles und jedes ehrlich bezahlten und oft Ge-
schenke machten, wo wir nichts dagegen erwarten dürften; daß wir uns endlich
überall als ihre besten Freunde bezeugt hätten, und Freunde zu bestehlen sey schänd-
lich und verdiene gestraft zu werden. Die gesunde Vernunft und Rechtschaffenheit,
welche der vortrefliche Alte bey dieser Gelegenheit bewies, machte uns denselben noch

*) S Hawkesworths Gesch. der engl. See-Reisen in 4. Th. II. S. 159.
H 2

in den Jahren 1772 bis 1775.
eine große Niederlage angerichtet haͤtten und ſehr ſtarke Leute geweſen; daß aber1774.
April.

dieſe ſchon ſeit langer Zeit gaͤnzlich ausgeſtorben waͤren. O-Mai, mit dem
ich nach unſrer Zuruͤcktunft in England hievon ſprach, bekraͤftigte die Ausſage
ſeiner Landsleute in den ſtaͤrkſten Ausdruͤcken. Mir duͤnkt dieſer Umſtand in der
alten Geſchichte von Tahiti gegruͤndet zu ſeyn; nicht als wollte ich daraus fol-
gern, daß nur zufaͤlligerweiſe einige Cannibalen auf der Inſel gelandet und die
Einwohner mit ihren Streifereyen geplagt haͤtten; ſondern ich glaube vielmehr,
daß der urſpruͤngliche Zuſtand des ganzen Volks in dieſer Tradition verborgen
liegt, und daß alle Tahitier Menſchenfreſſer geweſen ſind, ehe ſie durch die Vortref-
lichkeit des Landes und des Clima, imgleichen durch den Ueberfluß guter Nah-
rungsmittel geſitteter geworden. So ſonderbar es ſcheinen mag, ſo gewiß iſt
es doch, daß faſt alle Voͤlker, in den alleraͤlteſten Zeiten, Cannibalen geweſen ſind.
Auf Tahiti triſt man noch heut zu Tage Spuren davon. Capitain Cook fand
bey ſeiner erſten Reiſe hieher, in einem Hauſe funfzehn friſche Kinnladen aufge-
hangen.*) Sollten dieſes nicht Siegeszeichen von ihren Feinden geweſen ſeyn?

Am folgenden Morgen ward ein Tahitier, der bey den Zelten ein
Waſſerfaß ſtehlen wollen, ertappt und gefangen geſetzt. O-Tuh und Tohah
die etwas fruͤh an Bord kamen, und hoͤrten, was vorgegangen war, begleiteten den
Capitain Cook ans Land, um die Beſtrafung des Diebes mit anzuſehn. Er
ward an einen Pfahl gebunden und bekam mit ihrer Genehmigung vier und
zwanzig tuͤchtige Hiebe. Dieſe Execution jagte den haͤufig dabey verſamleten
Indianern ein ſolches Schrecken ein, daß ſie anfiengen davon zu laufen. Tohah
aber rief ſie zuruͤck und zeigte ihnen in einer Anrede, die 4 bis 5 Minuten dauerte,
daß unſre Beſtrafung des Diebſtahls billig und nothwendig ſey. Er ſtellte ih-
nen vor, daß wir bey aller unſrer Macht weder ſtoͤhlen, noch Gewalt
brauchten; daß wir vielmehr alles und jedes ehrlich bezahlten und oft Ge-
ſchenke machten, wo wir nichts dagegen erwarten duͤrften; daß wir uns endlich
uͤberall als ihre beſten Freunde bezeugt haͤtten, und Freunde zu beſtehlen ſey ſchaͤnd-
lich und verdiene geſtraft zu werden. Die geſunde Vernunft und Rechtſchaffenheit,
welche der vortrefliche Alte bey dieſer Gelegenheit bewies, machte uns denſelben noch

*) S Hawkesworths Geſch. der engl. See-Reiſen in 4. Th. II. S. 159.
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[59/0071] in den Jahren 1772 bis 1775. eine große Niederlage angerichtet haͤtten und ſehr ſtarke Leute geweſen; daß aber dieſe ſchon ſeit langer Zeit gaͤnzlich ausgeſtorben waͤren. O-Mai, mit dem ich nach unſrer Zuruͤcktunft in England hievon ſprach, bekraͤftigte die Ausſage ſeiner Landsleute in den ſtaͤrkſten Ausdruͤcken. Mir duͤnkt dieſer Umſtand in der alten Geſchichte von Tahiti gegruͤndet zu ſeyn; nicht als wollte ich daraus fol- gern, daß nur zufaͤlligerweiſe einige Cannibalen auf der Inſel gelandet und die Einwohner mit ihren Streifereyen geplagt haͤtten; ſondern ich glaube vielmehr, daß der urſpruͤngliche Zuſtand des ganzen Volks in dieſer Tradition verborgen liegt, und daß alle Tahitier Menſchenfreſſer geweſen ſind, ehe ſie durch die Vortref- lichkeit des Landes und des Clima, imgleichen durch den Ueberfluß guter Nah- rungsmittel geſitteter geworden. So ſonderbar es ſcheinen mag, ſo gewiß iſt es doch, daß faſt alle Voͤlker, in den alleraͤlteſten Zeiten, Cannibalen geweſen ſind. Auf Tahiti triſt man noch heut zu Tage Spuren davon. Capitain Cook fand bey ſeiner erſten Reiſe hieher, in einem Hauſe funfzehn friſche Kinnladen aufge- hangen. *) Sollten dieſes nicht Siegeszeichen von ihren Feinden geweſen ſeyn? 1774. April. Am folgenden Morgen ward ein Tahitier, der bey den Zelten ein Waſſerfaß ſtehlen wollen, ertappt und gefangen geſetzt. O-Tuh und Tohah die etwas fruͤh an Bord kamen, und hoͤrten, was vorgegangen war, begleiteten den Capitain Cook ans Land, um die Beſtrafung des Diebes mit anzuſehn. Er ward an einen Pfahl gebunden und bekam mit ihrer Genehmigung vier und zwanzig tuͤchtige Hiebe. Dieſe Execution jagte den haͤufig dabey verſamleten Indianern ein ſolches Schrecken ein, daß ſie anfiengen davon zu laufen. Tohah aber rief ſie zuruͤck und zeigte ihnen in einer Anrede, die 4 bis 5 Minuten dauerte, daß unſre Beſtrafung des Diebſtahls billig und nothwendig ſey. Er ſtellte ih- nen vor, daß wir bey aller unſrer Macht weder ſtoͤhlen, noch Gewalt brauchten; daß wir vielmehr alles und jedes ehrlich bezahlten und oft Ge- ſchenke machten, wo wir nichts dagegen erwarten duͤrften; daß wir uns endlich uͤberall als ihre beſten Freunde bezeugt haͤtten, und Freunde zu beſtehlen ſey ſchaͤnd- lich und verdiene geſtraft zu werden. Die geſunde Vernunft und Rechtſchaffenheit, welche der vortrefliche Alte bey dieſer Gelegenheit bewies, machte uns denſelben noch *) S Hawkesworths Geſch. der engl. See-Reiſen in 4. Th. II. S. 159. H 2

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Zitationshilfe: Forster, Georg: Johann Reinhold Forster's [...] Reise um die Welt. Bd. 2. Berlin, 1780, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/forster_reise02_1780/71>, abgerufen am 13.05.2024.