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Forster, Georg: Johann Reinhold Forster's [...] Reise um die Welt. Bd. 1. Berlin, 1778.

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in den Jahren 1772 bis 1775.
rein abzulocken. Es gieng also heute Abend zwischen den Verdecken1773.
August.

vollkommen so ausschweifend lustig zu, als ob wir nicht zu Tahiti,
sondern zu Spithead vor Anker gelegen hätten. Ehe es ganz dunkel ward,
versammelten sich die Mädchen auf dem Verdeck des Vordertheils. Eine von
ihnen blies die Nasen-Flöte; die übrigen tanzten allerhand Tänze, worunter
verschiedne waren, die mit unsern Begriffen von Zucht und Ehrbarkeit eben
nicht sonderlich übereinstimmten. Wenn man aber bedenkt, daß ein großer
Theil dessen, was nach unsern Gebräuchen tadelnswerth zu nennen wäre, hier,
wegen der Einfalt der Erziehung und Tracht, würklich für unschuldig gelten
kann; so sind die Tahitischen Buhlerinnen im Grunde minder frech und ausschwei-
fend als die gesittetern Huren in Europa. Sobald es dunkel ward, verloren
sie sich zwischen den Verdecken und konnten ihnen ihre Liebhaber frisch Schwei-
nefleisch vorsetzen, so aßen sie davon ohne Maas und Ziel, ob sie gleich zuvor, in
Gegenwart ihrer Landsleute, nichts hatten anrühren wollen, weil, einer hier ein-
geführten Gewohnheit zufolge, von welcher sich kein Grund angeben läßt, Manns-
und Frauenspersonen nicht mit einander speisen dürfen. Es war erstaunend,
was für eine Menge von Fleisch diese Mädchen verschlingen konnten, und ihre
Gierigkeit dünkte uns ein deutlicher Beweis, daß ihnen dergleichen, zu Hause,
selten oder niemals vorkommen mogte. Die zärtliche Wehmuth von Tutahahs
Mutter, die edle Gutherzigkeit unsers Freundes O-Wahau, und die vortheil-
haften Begriffe von den Tahitiern überhaupt, waren in so frischen Andenken
bey uns, daß der Anblick und die Aufführung solcher Creaturen uns desto auf-
fallender seyn mußte, die alle Pflichten des gesellschaftlichen Lebens hintan setz-
ten und sich lediglich viehischen Trieben überließen. Die menschliche Natur
muß freylich sehr unvollkommen seyn, daß eine sonst so gute, einfältige und glück-
liche Nation zu solcher Verwilderung und Sittenlosigkeit hat herabsinken
können; und es ist allerdings herzlich zu bejammern, daß die reichlichsten und
besten Geschenke eines gütigen Schöpfers am leichtesten gemißbraucht werden
und daß Irren so menschlich ist!

Am folgenden Morgen kam O-Tu, nebst seiner Schwester Tedua-
Taurai
und verschiednen seiner Verwandten früh ans Schiff, und ließ uns ein
Schwein und eine große Albecore an Bord reichen, sie selbst aber wollten nicht

in den Jahren 1772 bis 1775.
rein abzulocken. Es gieng alſo heute Abend zwiſchen den Verdecken1773.
Auguſt.

vollkommen ſo ausſchweifend luſtig zu, als ob wir nicht zu Tahiti,
ſondern zu Spithead vor Anker gelegen haͤtten. Ehe es ganz dunkel ward,
verſammelten ſich die Maͤdchen auf dem Verdeck des Vordertheils. Eine von
ihnen blies die Naſen-Floͤte; die uͤbrigen tanzten allerhand Taͤnze, worunter
verſchiedne waren, die mit unſern Begriffen von Zucht und Ehrbarkeit eben
nicht ſonderlich uͤbereinſtimmten. Wenn man aber bedenkt, daß ein großer
Theil deſſen, was nach unſern Gebraͤuchen tadelnswerth zu nennen waͤre, hier,
wegen der Einfalt der Erziehung und Tracht, wuͤrklich fuͤr unſchuldig gelten
kann; ſo ſind die Tahitiſchen Buhlerinnen im Grunde minder frech und ausſchwei-
fend als die geſittetern Huren in Europa. Sobald es dunkel ward, verloren
ſie ſich zwiſchen den Verdecken und konnten ihnen ihre Liebhaber friſch Schwei-
nefleiſch vorſetzen, ſo aßen ſie davon ohne Maas und Ziel, ob ſie gleich zuvor, in
Gegenwart ihrer Landsleute, nichts hatten anruͤhren wollen, weil, einer hier ein-
gefuͤhrten Gewohnheit zufolge, von welcher ſich kein Grund angeben laͤßt, Manns-
und Frauensperſonen nicht mit einander ſpeiſen duͤrfen. Es war erſtaunend,
was fuͤr eine Menge von Fleiſch dieſe Maͤdchen verſchlingen konnten, und ihre
Gierigkeit duͤnkte uns ein deutlicher Beweis, daß ihnen dergleichen, zu Hauſe,
ſelten oder niemals vorkommen mogte. Die zaͤrtliche Wehmuth von Tutahahs
Mutter, die edle Gutherzigkeit unſers Freundes O-Wahau, und die vortheil-
haften Begriffe von den Tahitiern uͤberhaupt, waren in ſo friſchen Andenken
bey uns, daß der Anblick und die Auffuͤhrung ſolcher Creaturen uns deſto auf-
fallender ſeyn mußte, die alle Pflichten des geſellſchaftlichen Lebens hintan ſetz-
ten und ſich lediglich viehiſchen Trieben uͤberließen. Die menſchliche Natur
muß freylich ſehr unvollkommen ſeyn, daß eine ſonſt ſo gute, einfaͤltige und gluͤck-
liche Nation zu ſolcher Verwilderung und Sittenloſigkeit hat herabſinken
koͤnnen; und es iſt allerdings herzlich zu bejammern, daß die reichlichſten und
beſten Geſchenke eines guͤtigen Schoͤpfers am leichteſten gemißbraucht werden
und daß Irren ſo menſchlich iſt!

Am folgenden Morgen kam O-Tu, nebſt ſeiner Schweſter Tedua-
Tauraï
und verſchiednen ſeiner Verwandten fruͤh ans Schiff, und ließ uns ein
Schwein und eine große Albecore an Bord reichen, ſie ſelbſt aber wollten nicht

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[255/0308] in den Jahren 1772 bis 1775. rein abzulocken. Es gieng alſo heute Abend zwiſchen den Verdecken vollkommen ſo ausſchweifend luſtig zu, als ob wir nicht zu Tahiti, ſondern zu Spithead vor Anker gelegen haͤtten. Ehe es ganz dunkel ward, verſammelten ſich die Maͤdchen auf dem Verdeck des Vordertheils. Eine von ihnen blies die Naſen-Floͤte; die uͤbrigen tanzten allerhand Taͤnze, worunter verſchiedne waren, die mit unſern Begriffen von Zucht und Ehrbarkeit eben nicht ſonderlich uͤbereinſtimmten. Wenn man aber bedenkt, daß ein großer Theil deſſen, was nach unſern Gebraͤuchen tadelnswerth zu nennen waͤre, hier, wegen der Einfalt der Erziehung und Tracht, wuͤrklich fuͤr unſchuldig gelten kann; ſo ſind die Tahitiſchen Buhlerinnen im Grunde minder frech und ausſchwei- fend als die geſittetern Huren in Europa. Sobald es dunkel ward, verloren ſie ſich zwiſchen den Verdecken und konnten ihnen ihre Liebhaber friſch Schwei- nefleiſch vorſetzen, ſo aßen ſie davon ohne Maas und Ziel, ob ſie gleich zuvor, in Gegenwart ihrer Landsleute, nichts hatten anruͤhren wollen, weil, einer hier ein- gefuͤhrten Gewohnheit zufolge, von welcher ſich kein Grund angeben laͤßt, Manns- und Frauensperſonen nicht mit einander ſpeiſen duͤrfen. Es war erſtaunend, was fuͤr eine Menge von Fleiſch dieſe Maͤdchen verſchlingen konnten, und ihre Gierigkeit duͤnkte uns ein deutlicher Beweis, daß ihnen dergleichen, zu Hauſe, ſelten oder niemals vorkommen mogte. Die zaͤrtliche Wehmuth von Tutahahs Mutter, die edle Gutherzigkeit unſers Freundes O-Wahau, und die vortheil- haften Begriffe von den Tahitiern uͤberhaupt, waren in ſo friſchen Andenken bey uns, daß der Anblick und die Auffuͤhrung ſolcher Creaturen uns deſto auf- fallender ſeyn mußte, die alle Pflichten des geſellſchaftlichen Lebens hintan ſetz- ten und ſich lediglich viehiſchen Trieben uͤberließen. Die menſchliche Natur muß freylich ſehr unvollkommen ſeyn, daß eine ſonſt ſo gute, einfaͤltige und gluͤck- liche Nation zu ſolcher Verwilderung und Sittenloſigkeit hat herabſinken koͤnnen; und es iſt allerdings herzlich zu bejammern, daß die reichlichſten und beſten Geſchenke eines guͤtigen Schoͤpfers am leichteſten gemißbraucht werden und daß Irren ſo menſchlich iſt! 1773. Auguſt. Am folgenden Morgen kam O-Tu, nebſt ſeiner Schweſter Tedua- Tauraï und verſchiednen ſeiner Verwandten fruͤh ans Schiff, und ließ uns ein Schwein und eine große Albecore an Bord reichen, ſie ſelbſt aber wollten nicht

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Zitationshilfe: Forster, Georg: Johann Reinhold Forster's [...] Reise um die Welt. Bd. 1. Berlin, 1778, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/forster_reise01_1778/308>, abgerufen am 25.11.2024.