Die Philosophen dieses Jahrhunderts, denen die anscheinenden Widersprüche verschiedner Reisenden sehr misfielen, wählten sich gewisse Schriftsteller, welche sie den übrigen vorzogen, ihnen allen Glauben beymaßen, hingegen alle andre für fabelhaft ansahen. Ohne hinreichende Kenntniß warfen sie sich zu Richtern auf, nahmen gewisse Sätze für wahr an, (die sie noch dazu nach eignem Gutdünken verstellten), und bauten sich auf diese Art Systeme, die von fern ins Auge fallen, aber bey näherer Un- tersuchung, uns wie ein Traum mit falschen Erscheinungen betrügen. End- lich wurden es die Gelehrten müde, durch Declamation und sophistische Gründe hingerissen zu werden, und verlangten überlaut, daß man doch nur Thatsachen sammlen sollte. Ihr Wunsch ward erfüllt; in allen Weltthei- len trieb man Thatsachen auf, und bey dem Allem stand es um ihre Wissen- schaft nichts besser. Sie bekamen einen vermischten Haufen loser ein- zelner Glieder, woraus sich durch keine Kunst ein Ganzes hervorbrin- gen lies; und indem sie bis zum Unsinn nach factis jagten, ver- lohren sie jedes andre Augenmerk, und wurden unfähig auch nur einen einzigen Satz zu bestimmen und zu abstrahiren; so wie jene Mikrologen, die ihr ganzes Leben auf die Anatomie einer Mücke verwenden, aus der sich doch für Menschen und Vieh nicht die geringste Folge ziehen läßt. Außerdem haben selten zween Reisende einerley Gegenstand auf gleiche Weise gesehen, sondern jeder gab nach Maaßgabe seiner Empfindung und Denkungsart eine besondere Nachricht davon. Man mußte also erst mit dem Beobachter bekannt seyn, ehe man von seinen Bemerkungen Gebrauch machen konnte. Ein Reisender, der nach meinem Begriff alle Erwartungen erfüllen wollte, müßte Rechtschaffenheit genug haben, ein- zelne Gegenstände richtig und in ihrem wahren Lichte zu beobachten, aber auch Scharfsinn genug dieselben zu verbinden, allgemeine Folgerungen daraus zu ziehen, um dadurch fich und seinen Lesern den Weg zu neuen Entdeckungen und künftigen Untersuchungen zu bahnen.
Mit solchen Begriffen gieng ich zur letzten Reise um die Welt zu Schiffe und sammlete, so viel es Zeit, Umstände und Kräfte gestatten wollten den Stof zu gegenwärtigem Werke. Ich habe mich immer be-
Vorrede.
Die Philoſophen dieſes Jahrhunderts, denen die anſcheinenden Widerſpruͤche verſchiedner Reiſenden ſehr misfielen, waͤhlten ſich gewiſſe Schriftſteller, welche ſie den uͤbrigen vorzogen, ihnen allen Glauben beymaßen, hingegen alle andre fuͤr fabelhaft anſahen. Ohne hinreichende Kenntniß warfen ſie ſich zu Richtern auf, nahmen gewiſſe Saͤtze fuͤr wahr an, (die ſie noch dazu nach eignem Gutduͤnken verſtellten), und bauten ſich auf dieſe Art Syſteme, die von fern ins Auge fallen, aber bey naͤherer Un- terſuchung, uns wie ein Traum mit falſchen Erſcheinungen betruͤgen. End- lich wurden es die Gelehrten muͤde, durch Declamation und ſophiſtiſche Gruͤnde hingeriſſen zu werden, und verlangten uͤberlaut, daß man doch nur Thatſachen ſammlen ſollte. Ihr Wunſch ward erfuͤllt; in allen Weltthei- len trieb man Thatſachen auf, und bey dem Allem ſtand es um ihre Wiſſen- ſchaft nichts beſſer. Sie bekamen einen vermiſchten Haufen loſer ein- zelner Glieder, woraus ſich durch keine Kunſt ein Ganzes hervorbrin- gen lies; und indem ſie bis zum Unſinn nach factis jagten, ver- lohren ſie jedes andre Augenmerk, und wurden unfaͤhig auch nur einen einzigen Satz zu beſtimmen und zu abſtrahiren; ſo wie jene Mikrologen, die ihr ganzes Leben auf die Anatomie einer Muͤcke verwenden, aus der ſich doch fuͤr Menſchen und Vieh nicht die geringſte Folge ziehen laͤßt. Außerdem haben ſelten zween Reiſende einerley Gegenſtand auf gleiche Weiſe geſehen, ſondern jeder gab nach Maaßgabe ſeiner Empfindung und Denkungsart eine beſondere Nachricht davon. Man mußte alſo erſt mit dem Beobachter bekannt ſeyn, ehe man von ſeinen Bemerkungen Gebrauch machen konnte. Ein Reiſender, der nach meinem Begriff alle Erwartungen erfuͤllen wollte, muͤßte Rechtſchaffenheit genug haben, ein- zelne Gegenſtaͤnde richtig und in ihrem wahren Lichte zu beobachten, aber auch Scharfſinn genug dieſelben zu verbinden, allgemeine Folgerungen daraus zu ziehen, um dadurch fich und ſeinen Leſern den Weg zu neuen Entdeckungen und kuͤnftigen Unterſuchungen zu bahnen.
Mit ſolchen Begriffen gieng ich zur letzten Reiſe um die Welt zu Schiffe und ſammlete, ſo viel es Zeit, Umſtaͤnde und Kraͤfte geſtatten wollten den Stof zu gegenwaͤrtigem Werke. Ich habe mich immer be-
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[0024]
Vorrede.
Die Philoſophen dieſes Jahrhunderts, denen die anſcheinenden
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Schriftſteller, welche ſie den uͤbrigen vorzogen, ihnen allen Glauben
beymaßen, hingegen alle andre fuͤr fabelhaft anſahen. Ohne hinreichende
Kenntniß warfen ſie ſich zu Richtern auf, nahmen gewiſſe Saͤtze fuͤr wahr
an, (die ſie noch dazu nach eignem Gutduͤnken verſtellten), und bauten ſich
auf dieſe Art Syſteme, die von fern ins Auge fallen, aber bey naͤherer Un-
terſuchung, uns wie ein Traum mit falſchen Erſcheinungen betruͤgen. End-
lich wurden es die Gelehrten muͤde, durch Declamation und ſophiſtiſche
Gruͤnde hingeriſſen zu werden, und verlangten uͤberlaut, daß man doch
nur Thatſachen ſammlen ſollte. Ihr Wunſch ward erfuͤllt; in allen Weltthei-
len trieb man Thatſachen auf, und bey dem Allem ſtand es um ihre Wiſſen-
ſchaft nichts beſſer. Sie bekamen einen vermiſchten Haufen loſer ein-
zelner Glieder, woraus ſich durch keine Kunſt ein Ganzes hervorbrin-
gen lies; und indem ſie bis zum Unſinn nach factis jagten, ver-
lohren ſie jedes andre Augenmerk, und wurden unfaͤhig auch nur einen
einzigen Satz zu beſtimmen und zu abſtrahiren; ſo wie jene Mikrologen,
die ihr ganzes Leben auf die Anatomie einer Muͤcke verwenden, aus
der ſich doch fuͤr Menſchen und Vieh nicht die geringſte Folge ziehen laͤßt.
Außerdem haben ſelten zween Reiſende einerley Gegenſtand auf gleiche
Weiſe geſehen, ſondern jeder gab nach Maaßgabe ſeiner Empfindung und
Denkungsart eine beſondere Nachricht davon. Man mußte alſo erſt
mit dem Beobachter bekannt ſeyn, ehe man von ſeinen Bemerkungen
Gebrauch machen konnte. Ein Reiſender, der nach meinem Begriff alle
Erwartungen erfuͤllen wollte, muͤßte Rechtſchaffenheit genug haben, ein-
zelne Gegenſtaͤnde richtig und in ihrem wahren Lichte zu beobachten, aber
auch Scharfſinn genug dieſelben zu verbinden, allgemeine Folgerungen
daraus zu ziehen, um dadurch fich und ſeinen Leſern den Weg zu neuen
Entdeckungen und kuͤnftigen Unterſuchungen zu bahnen.
Mit ſolchen Begriffen gieng ich zur letzten Reiſe um die Welt zu
Schiffe und ſammlete, ſo viel es Zeit, Umſtaͤnde und Kraͤfte geſtatten
wollten den Stof zu gegenwaͤrtigem Werke. Ich habe mich immer be-
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Forster, Georg: Johann Reinhold Forster's [...] Reise um die Welt. Bd. 1. Berlin, 1778, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/forster_reise01_1778/24>, abgerufen am 22.11.2024.
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