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Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. 1. Aufl. Berlin, 1898.

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hin, "sie singen erst." Und unter dieser Trostbetrachtung war er bis an den Altar gekommen, wo er links, in unmittelbarer Nähe des Brautpaares, einen leeren Stuhl entdeckte, mit einem Singezettel darauf. Er wußte, daß das sein Platz sein mußte, und ließ sich unter leiser Verbeugung neben dem Bräutigam nieder. Dieser, der seinen Anverwandten schon kannte, lächelte nur still vor sich hin und wies dann auf die Stelle, bis zu der die Singenden eben gekommen waren. Es war die vorletzte Zeile des Schlußverses. Einen Augenblick danach war die Zeremonie vorüber, und alles erhob sich. Lepel, das erste Mal um eine Woche zu früh, war das zweite Mal um eine Stunde zu spät gekommen. Als er wieder in Berlin war, kam er zu mir und sagte: "Ja, Fontane, ich habe mich eigentlich blamiert, aber ich kann es kaum bedauern, denn ich habe mich auf dem ganzen Rückwege daran aufgerichtet, wie das wohl auf Dich wirken und Dich erheitern würde."

Lepel trat sehr früh in den Tunnel, noch in der Mühler-Zeit vor Strachwitz und Scherenberg. Was er damals bot, war nicht bedeutend und ließ das Maß der Anerkennung auf einem mittlern Niveau; als er aber, in den ersten vierziger Jahren, von einem halbjährigen oder noch längeren Aufenthalt in Italien zurückkehrte, las er im Tunnel seine stark

hin, „sie singen erst.“ Und unter dieser Trostbetrachtung war er bis an den Altar gekommen, wo er links, in unmittelbarer Nähe des Brautpaares, einen leeren Stuhl entdeckte, mit einem Singezettel darauf. Er wußte, daß das sein Platz sein mußte, und ließ sich unter leiser Verbeugung neben dem Bräutigam nieder. Dieser, der seinen Anverwandten schon kannte, lächelte nur still vor sich hin und wies dann auf die Stelle, bis zu der die Singenden eben gekommen waren. Es war die vorletzte Zeile des Schlußverses. Einen Augenblick danach war die Zeremonie vorüber, und alles erhob sich. Lepel, das erste Mal um eine Woche zu früh, war das zweite Mal um eine Stunde zu spät gekommen. Als er wieder in Berlin war, kam er zu mir und sagte: „Ja, Fontane, ich habe mich eigentlich blamiert, aber ich kann es kaum bedauern, denn ich habe mich auf dem ganzen Rückwege daran aufgerichtet, wie das wohl auf Dich wirken und Dich erheitern würde.“

Lepel trat sehr früh in den Tunnel, noch in der Mühler-Zeit vor Strachwitz und Scherenberg. Was er damals bot, war nicht bedeutend und ließ das Maß der Anerkennung auf einem mittlern Niveau; als er aber, in den ersten vierziger Jahren, von einem halbjährigen oder noch längeren Aufenthalt in Italien zurückkehrte, las er im Tunnel seine stark

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[482/0491] hin, „sie singen erst.“ Und unter dieser Trostbetrachtung war er bis an den Altar gekommen, wo er links, in unmittelbarer Nähe des Brautpaares, einen leeren Stuhl entdeckte, mit einem Singezettel darauf. Er wußte, daß das sein Platz sein mußte, und ließ sich unter leiser Verbeugung neben dem Bräutigam nieder. Dieser, der seinen Anverwandten schon kannte, lächelte nur still vor sich hin und wies dann auf die Stelle, bis zu der die Singenden eben gekommen waren. Es war die vorletzte Zeile des Schlußverses. Einen Augenblick danach war die Zeremonie vorüber, und alles erhob sich. Lepel, das erste Mal um eine Woche zu früh, war das zweite Mal um eine Stunde zu spät gekommen. Als er wieder in Berlin war, kam er zu mir und sagte: „Ja, Fontane, ich habe mich eigentlich blamiert, aber ich kann es kaum bedauern, denn ich habe mich auf dem ganzen Rückwege daran aufgerichtet, wie das wohl auf Dich wirken und Dich erheitern würde.“ Lepel trat sehr früh in den Tunnel, noch in der Mühler-Zeit vor Strachwitz und Scherenberg. Was er damals bot, war nicht bedeutend und ließ das Maß der Anerkennung auf einem mittlern Niveau; als er aber, in den ersten vierziger Jahren, von einem halbjährigen oder noch längeren Aufenthalt in Italien zurückkehrte, las er im Tunnel seine stark

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Theodor Fontane-Arbeitsstelle der Georg-August-Universität Göttingen, Theodor Fontane: Große Brandenburger Ausgabe (GBA): Bereitstellung der Texttranskription (mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags Berlin). (2018-07-25T10:02:20Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Rahel Gajaneh Hartz: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-07-25T10:02:20Z)

Weitere Informationen:

Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches. Hrsg. von der Theodor Fontane-Arbeitsstelle, Universität Göttingen. Bandbearbeiter: Wolfgang Rasch. Berlin 2014 [= Große Brandenburger Ausgabe, Das autobiographische Werk, Bd. 3]: Bereitstellung der Texttranskription (mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags Berlin).

Verfahren der Texterfassung: manuell (einfach erfasst).

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. 1. Aufl. Berlin, 1898, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_zwanzig_1898/491>, abgerufen am 22.11.2024.