Fontane, Theodor: Jenseit des Tweed. Bilder und Briefe aus Schottland. Berlin, 1860.liche Bekehrungsversuch für diesen oder jenen moralischen oder kirchlichen Zweck, ist einer der hervorstechendsten Züge des Alt-Edinburger Lebens, insonderheit der High-Street. Wir werden gleich sehen, daß die Mäßigkeitsapostel dabei keine ausschließliche Herrschaft üben und sich's gefallen lassen müssen, mit den verschiedensten andern Elementen das Terrain zu theilen. Es mochte 9 Uhr sein, wir stiegen, wie so oft, von Canongate her die malerische Hügelstraße hinan und erfreuten uns an dem auf und abwogenden Treiben der Volksmenge. Als wir Tron-Church beinah erreicht hatten, sahen wir funfzig oder hundert Menschen an einer wenig erleuchteten Straßenecke stehen, und vernahmen bald, im Näherkommen, die Töne einer pathetischen, beschwörenden Stimme. Wir drängten uns durch den ziemlich engen Kreis, und standen einem blassen, hektisch und ärmlich aussehenden Manne gegenüber, der nicht müde wurde zu Eintracht, Versöhnung und christlicher Liebe zu ermahnen. Wir folgten seinem Vortrage zehn Minuten lang, bis endlich der äußerste Mangel an Fortschritt und Entwicklung es unmöglich machte noch länger auszuhalten. Er sprach im Sinne einer "Evangelischen Allianz", was man hätte hinnehmen können, wenn nur die Mahnung selbst etwas mehr als eine bloße Phrasenanhäufung gewesen wäre. Er zog seine Sätze ab wie ein Bankhalter seine Karten, mischte den Talon und begann von Neuem. Die Sätze lagen anders, aber dieselben Karten. Wir sahen deutlich, daß der Mann längst liche Bekehrungsversuch für diesen oder jenen moralischen oder kirchlichen Zweck, ist einer der hervorstechendsten Züge des Alt-Edinburger Lebens, insonderheit der High-Street. Wir werden gleich sehen, daß die Mäßigkeitsapostel dabei keine ausschließliche Herrschaft üben und sich’s gefallen lassen müssen, mit den verschiedensten andern Elementen das Terrain zu theilen. Es mochte 9 Uhr sein, wir stiegen, wie so oft, von Canongate her die malerische Hügelstraße hinan und erfreuten uns an dem auf und abwogenden Treiben der Volksmenge. Als wir Tron-Church beinah erreicht hatten, sahen wir funfzig oder hundert Menschen an einer wenig erleuchteten Straßenecke stehen, und vernahmen bald, im Näherkommen, die Töne einer pathetischen, beschwörenden Stimme. Wir drängten uns durch den ziemlich engen Kreis, und standen einem blassen, hektisch und ärmlich aussehenden Manne gegenüber, der nicht müde wurde zu Eintracht, Versöhnung und christlicher Liebe zu ermahnen. Wir folgten seinem Vortrage zehn Minuten lang, bis endlich der äußerste Mangel an Fortschritt und Entwicklung es unmöglich machte noch länger auszuhalten. Er sprach im Sinne einer „Evangelischen Allianz“, was man hätte hinnehmen können, wenn nur die Mahnung selbst etwas mehr als eine bloße Phrasenanhäufung gewesen wäre. Er zog seine Sätze ab wie ein Bankhalter seine Karten, mischte den Talon und begann von Neuem. Die Sätze lagen anders, aber dieselben Karten. Wir sahen deutlich, daß der Mann längst <TEI> <text> <body> <div> <div> <p><pb facs="#f0121" n="107"/> liche Bekehrungsversuch für diesen oder jenen moralischen oder kirchlichen Zweck, ist einer der hervorstechendsten Züge des Alt-Edinburger Lebens, insonderheit der High-Street. Wir werden gleich sehen, daß die Mäßigkeitsapostel dabei keine ausschließliche Herrschaft üben und sich’s gefallen lassen müssen, mit den verschiedensten andern Elementen das Terrain zu theilen.</p><lb/> <p>Es mochte 9 Uhr sein, wir stiegen, wie so oft, von Canongate her die malerische Hügelstraße hinan und erfreuten uns an dem auf und abwogenden Treiben der Volksmenge. Als wir Tron-Church beinah erreicht hatten, sahen wir funfzig oder hundert Menschen an einer wenig erleuchteten Straßenecke stehen, und vernahmen bald, im Näherkommen, die Töne einer pathetischen, beschwörenden Stimme. Wir drängten uns durch den ziemlich engen Kreis, und standen einem blassen, hektisch und ärmlich aussehenden Manne gegenüber, der nicht müde wurde zu Eintracht, Versöhnung und christlicher Liebe zu ermahnen. Wir folgten seinem Vortrage zehn Minuten lang, bis endlich der äußerste Mangel an Fortschritt und Entwicklung es unmöglich machte noch länger auszuhalten. Er sprach im Sinne einer „Evangelischen Allianz“, was man hätte hinnehmen können, wenn nur die Mahnung selbst etwas mehr als eine bloße Phrasenanhäufung gewesen wäre. Er zog seine Sätze ab wie ein Bankhalter seine Karten, mischte den Talon und begann von Neuem. Die Sätze lagen anders, aber dieselben Karten. Wir sahen deutlich, daß der Mann längst<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [107/0121]
liche Bekehrungsversuch für diesen oder jenen moralischen oder kirchlichen Zweck, ist einer der hervorstechendsten Züge des Alt-Edinburger Lebens, insonderheit der High-Street. Wir werden gleich sehen, daß die Mäßigkeitsapostel dabei keine ausschließliche Herrschaft üben und sich’s gefallen lassen müssen, mit den verschiedensten andern Elementen das Terrain zu theilen.
Es mochte 9 Uhr sein, wir stiegen, wie so oft, von Canongate her die malerische Hügelstraße hinan und erfreuten uns an dem auf und abwogenden Treiben der Volksmenge. Als wir Tron-Church beinah erreicht hatten, sahen wir funfzig oder hundert Menschen an einer wenig erleuchteten Straßenecke stehen, und vernahmen bald, im Näherkommen, die Töne einer pathetischen, beschwörenden Stimme. Wir drängten uns durch den ziemlich engen Kreis, und standen einem blassen, hektisch und ärmlich aussehenden Manne gegenüber, der nicht müde wurde zu Eintracht, Versöhnung und christlicher Liebe zu ermahnen. Wir folgten seinem Vortrage zehn Minuten lang, bis endlich der äußerste Mangel an Fortschritt und Entwicklung es unmöglich machte noch länger auszuhalten. Er sprach im Sinne einer „Evangelischen Allianz“, was man hätte hinnehmen können, wenn nur die Mahnung selbst etwas mehr als eine bloße Phrasenanhäufung gewesen wäre. Er zog seine Sätze ab wie ein Bankhalter seine Karten, mischte den Talon und begann von Neuem. Die Sätze lagen anders, aber dieselben Karten. Wir sahen deutlich, daß der Mann längst
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Zitationshilfe: | Fontane, Theodor: Jenseit des Tweed. Bilder und Briefe aus Schottland. Berlin, 1860, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_tweed_1860/121>, abgerufen am 22.07.2024. |