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Fontane, Theodor: Der Stechlin. Berlin, 1899.

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ich komme vor allem auch, um mich in zwölfter Stunde
noch nach Möglichkeit zu informieren. In dem Augen¬
blick, wo der gänzlich ignorante Kandidatus in seinen
Frack fährt, guckt er -- so was soll vorkommen -- noch
einmal ins Corpus juris und liest, sagen wir zehn
Zeilen, und gerad' über diese wird er nachher gefragt
und sieht sich gerettet. Dergleichen könnte mir doch auch
vorbehalten sein. Sie waren lange drüben und die
Damen ebenso. Auf was muß ich achten, was ver¬
meiden, was thun? Vor allem, was muß ich sehn und
was nicht sehn? Das letztere vielleicht das Wichtigste
von allem."

"Gewiß, lieber Stechlin. Aber ehe wir anfangen,
rücken Sie hier ein und gönnen Sie sich eine Tasse Thee.
Freilich, daß Sie den Thee würdigen werden, ist so gut
wie ausgeschlossen; dazu sind Sie viel zu aufgeregt.
Sie sind ja wie ein Wasserfall; ich erkenne Sie kaum
wieder."

Woldemar wollte sich entschuldigen.

"Nur keine Entschuldigungen. Und am wenigsten
über das. Alles ist heutzutage so nüchtern, daß ich
immer froh bin, mal einer Aufregung zu begegnen;
Aufregung kleidet besser als Indifferenz und jedenfalls
ist sie interessanter. Was meinst du dazu, Melusine?"

"Papa schraubt mich. Ich werde mich aber hüten,
zu antworten."

"Und so denn wieder zur Sache. Ja, lieber Stech¬
lin, was thun, was sehn? Oder wie Sie ganz richtig
bemerken, was nicht sehn? Überall etwas sehr schwieriges.
In Italien vertrödelt man die Zeit mit Bildern, in
England mit Hinrichtungsblöcken. Sie haben drüben
ganze Kollektionen davon. Also möglichst wenig Histo¬
risches. Und dann natürlich keine Kirchen, immer mit
Ausnahme von Westminster. Ich glaube, was man so
mit billiger Wendung "Land und Leute" nennt, das ist

ich komme vor allem auch, um mich in zwölfter Stunde
noch nach Möglichkeit zu informieren. In dem Augen¬
blick, wo der gänzlich ignorante Kandidatus in ſeinen
Frack fährt, guckt er — ſo was ſoll vorkommen — noch
einmal ins Corpus juris und lieſt, ſagen wir zehn
Zeilen, und gerad' über dieſe wird er nachher gefragt
und ſieht ſich gerettet. Dergleichen könnte mir doch auch
vorbehalten ſein. Sie waren lange drüben und die
Damen ebenſo. Auf was muß ich achten, was ver¬
meiden, was thun? Vor allem, was muß ich ſehn und
was nicht ſehn? Das letztere vielleicht das Wichtigſte
von allem.“

„Gewiß, lieber Stechlin. Aber ehe wir anfangen,
rücken Sie hier ein und gönnen Sie ſich eine Taſſe Thee.
Freilich, daß Sie den Thee würdigen werden, iſt ſo gut
wie ausgeſchloſſen; dazu ſind Sie viel zu aufgeregt.
Sie ſind ja wie ein Waſſerfall; ich erkenne Sie kaum
wieder.“

Woldemar wollte ſich entſchuldigen.

„Nur keine Entſchuldigungen. Und am wenigſten
über das. Alles iſt heutzutage ſo nüchtern, daß ich
immer froh bin, mal einer Aufregung zu begegnen;
Aufregung kleidet beſſer als Indifferenz und jedenfalls
iſt ſie intereſſanter. Was meinſt du dazu, Meluſine?“

„Papa ſchraubt mich. Ich werde mich aber hüten,
zu antworten.“

„Und ſo denn wieder zur Sache. Ja, lieber Stech¬
lin, was thun, was ſehn? Oder wie Sie ganz richtig
bemerken, was nicht ſehn? Überall etwas ſehr ſchwieriges.
In Italien vertrödelt man die Zeit mit Bildern, in
England mit Hinrichtungsblöcken. Sie haben drüben
ganze Kollektionen davon. Alſo möglichſt wenig Hiſto¬
riſches. Und dann natürlich keine Kirchen, immer mit
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[281/0288] ich komme vor allem auch, um mich in zwölfter Stunde noch nach Möglichkeit zu informieren. In dem Augen¬ blick, wo der gänzlich ignorante Kandidatus in ſeinen Frack fährt, guckt er — ſo was ſoll vorkommen — noch einmal ins Corpus juris und lieſt, ſagen wir zehn Zeilen, und gerad' über dieſe wird er nachher gefragt und ſieht ſich gerettet. Dergleichen könnte mir doch auch vorbehalten ſein. Sie waren lange drüben und die Damen ebenſo. Auf was muß ich achten, was ver¬ meiden, was thun? Vor allem, was muß ich ſehn und was nicht ſehn? Das letztere vielleicht das Wichtigſte von allem.“ „Gewiß, lieber Stechlin. Aber ehe wir anfangen, rücken Sie hier ein und gönnen Sie ſich eine Taſſe Thee. Freilich, daß Sie den Thee würdigen werden, iſt ſo gut wie ausgeſchloſſen; dazu ſind Sie viel zu aufgeregt. Sie ſind ja wie ein Waſſerfall; ich erkenne Sie kaum wieder.“ Woldemar wollte ſich entſchuldigen. „Nur keine Entſchuldigungen. Und am wenigſten über das. Alles iſt heutzutage ſo nüchtern, daß ich immer froh bin, mal einer Aufregung zu begegnen; Aufregung kleidet beſſer als Indifferenz und jedenfalls iſt ſie intereſſanter. Was meinſt du dazu, Meluſine?“ „Papa ſchraubt mich. Ich werde mich aber hüten, zu antworten.“ „Und ſo denn wieder zur Sache. Ja, lieber Stech¬ lin, was thun, was ſehn? Oder wie Sie ganz richtig bemerken, was nicht ſehn? Überall etwas ſehr ſchwieriges. In Italien vertrödelt man die Zeit mit Bildern, in England mit Hinrichtungsblöcken. Sie haben drüben ganze Kollektionen davon. Alſo möglichſt wenig Hiſto¬ riſches. Und dann natürlich keine Kirchen, immer mit Ausnahme von Weſtminſter. Ich glaube, was man ſo mit billiger Wendung „Land und Leute“ nennt, das iſt

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Der Stechlin. Berlin, 1899, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_stechlin_1899/288>, abgerufen am 22.11.2024.