genug, um zu fühlen, was von diesem Spotte zu halten war.
Dicht neben der Eingangsthür, über einem Rokoko¬ tisch, auf dem rothe Gläser und eine Wasserkaraffe standen, hing noch eine buntfarbige, mit einer drei¬ sprachigen Unterschrift versehene Lithographie: "Si jeunesse savait", -- ein Bild, das sie sich entsann in der Dörr'schen Wohnung gesehen zu haben. Dörr liebte dergleichen. Als sie's hier wieder sah, fuhr sie verstimmt zusammen. Ihre feine Sinnlichkeit fühlte sich von dem Lüsternen in dem Bilde wie von einer Verzerrung ihres eignen Gefühls beleidigt und so ging sie denn, den Eindruck wieder los zu werden, bis an das Giebelfenster und öffnete beide Flügel, um die Nachtluft einzulassen. Ach, wie sie das erquickte! Dabei setzte sie sich auf das Fenster¬ brett, das nur zwei Handbreit über der Diele war, schlang ihren linken Arm um das Kreuzholz und horchte nach der nicht allzu entfernten Veranda hinüber. Aber sie vernahm nichts. Eine tiefe Stille herrschte, nur in der alten Ulme ging ein Wehen und Rauschen und alles, was eben noch von Verstimmung in ihrer Seele geruht haben mochte, das schwand jetzt hin, als sie den Blick immer ein¬ dringlicher und immer entzückter auf das vor ihr ausgebreitete Bild richtete. Das Wasser fluthete leise, der Wald und die Wiese lagen im abendlichen
genug, um zu fühlen, was von dieſem Spotte zu halten war.
Dicht neben der Eingangsthür, über einem Rokoko¬ tiſch, auf dem rothe Gläſer und eine Waſſerkaraffe ſtanden, hing noch eine buntfarbige, mit einer drei¬ ſprachigen Unterſchrift verſehene Lithographie: „Si jeunesse savait“‚ — ein Bild, das ſie ſich entſann in der Dörr'ſchen Wohnung geſehen zu haben. Dörr liebte dergleichen. Als ſie's hier wieder ſah, fuhr ſie verſtimmt zuſammen. Ihre feine Sinnlichkeit fühlte ſich von dem Lüſternen in dem Bilde wie von einer Verzerrung ihres eignen Gefühls beleidigt und ſo ging ſie denn, den Eindruck wieder los zu werden, bis an das Giebelfenſter und öffnete beide Flügel, um die Nachtluft einzulaſſen. Ach, wie ſie das erquickte! Dabei ſetzte ſie ſich auf das Fenſter¬ brett, das nur zwei Handbreit über der Diele war, ſchlang ihren linken Arm um das Kreuzholz und horchte nach der nicht allzu entfernten Veranda hinüber. Aber ſie vernahm nichts. Eine tiefe Stille herrſchte, nur in der alten Ulme ging ein Wehen und Rauſchen und alles, was eben noch von Verſtimmung in ihrer Seele geruht haben mochte, das ſchwand jetzt hin, als ſie den Blick immer ein¬ dringlicher und immer entzückter auf das vor ihr ausgebreitete Bild richtete. Das Waſſer fluthete leiſe, der Wald und die Wieſe lagen im abendlichen
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genug, um zu fühlen, was von dieſem Spotte zu
halten war.
Dicht neben der Eingangsthür, über einem Rokoko¬
tiſch, auf dem rothe Gläſer und eine Waſſerkaraffe
ſtanden, hing noch eine buntfarbige, mit einer drei¬
ſprachigen Unterſchrift verſehene Lithographie: „Si
jeunesse savait“‚ — ein Bild, das ſie ſich entſann
in der Dörr'ſchen Wohnung geſehen zu haben. Dörr
liebte dergleichen. Als ſie's hier wieder ſah, fuhr
ſie verſtimmt zuſammen. Ihre feine Sinnlichkeit
fühlte ſich von dem Lüſternen in dem Bilde wie
von einer Verzerrung ihres eignen Gefühls beleidigt
und ſo ging ſie denn, den Eindruck wieder los zu
werden, bis an das Giebelfenſter und öffnete beide
Flügel, um die Nachtluft einzulaſſen. Ach, wie ſie
das erquickte! Dabei ſetzte ſie ſich auf das Fenſter¬
brett, das nur zwei Handbreit über der Diele war,
ſchlang ihren linken Arm um das Kreuzholz und
horchte nach der nicht allzu entfernten Veranda
hinüber. Aber ſie vernahm nichts. Eine tiefe
Stille herrſchte, nur in der alten Ulme ging ein
Wehen und Rauſchen und alles, was eben noch von
Verſtimmung in ihrer Seele geruht haben mochte,
das ſchwand jetzt hin, als ſie den Blick immer ein¬
dringlicher und immer entzückter auf das vor ihr
ausgebreitete Bild richtete. Das Waſſer fluthete
leiſe, der Wald und die Wieſe lagen im abendlichen
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Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. Leipzig, 1888, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_irrungen_1888/133>, abgerufen am 22.11.2024.
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