herein, und sie fühlte, daß sie wie eine Gefangene sei und nicht mehr heraus könne.
Sie litt schwer darunter und wollte sich befreien. Aber wiewohl sie starker Empfindungen fähig war, so war sie doch keine starke Natur; ihr fehlte die Nachhaltigkeit, und alle guten Anwandlungen gingen wieder vorüber. So trieb sie denn weiter, heute, weil sie's nicht ändern konnte, morgen, weil sie's nicht ändern wollte. Das Verbotene, das Geheimnis¬ volle hatte seine Macht über sie.
So kam es, daß sie sich, von Natur frei und offen, in ein verstecktes Komödienspiel mehr und mehr hinein lebte. Mitunter erschrack sie, wie leicht es ihr wurde. Nur in einem blieb sie sich gleich: sie sah alles klar und beschönigte nichts. Einmal trat sie spät abends vor den Spiegel in ihrer Schlafstube; die Lichter und Schatten flogen hin und her, und Rollo schlug draußen an, und im selben Augenblicke war es ihr, als sähe ihr wer über die Schulter. Aber sie besann sich rasch. "Ich weiß schon, was es ist; es war nicht der," und sie wies mit dem Finger nach dem Spukzimmer oben. "Es war 'was anderes ... mein Gewissen ... Effi, Du bist verloren."
Es ging aber doch weiter so, die Kugel war im Rollen, und was an einem Tage geschah, machte das Thun des andern zur Notwendigkeit.
Effi Brieſt
herein, und ſie fühlte, daß ſie wie eine Gefangene ſei und nicht mehr heraus könne.
Sie litt ſchwer darunter und wollte ſich befreien. Aber wiewohl ſie ſtarker Empfindungen fähig war, ſo war ſie doch keine ſtarke Natur; ihr fehlte die Nachhaltigkeit, und alle guten Anwandlungen gingen wieder vorüber. So trieb ſie denn weiter, heute, weil ſie's nicht ändern konnte, morgen, weil ſie's nicht ändern wollte. Das Verbotene, das Geheimnis¬ volle hatte ſeine Macht über ſie.
So kam es, daß ſie ſich, von Natur frei und offen, in ein verſtecktes Komödienſpiel mehr und mehr hinein lebte. Mitunter erſchrack ſie, wie leicht es ihr wurde. Nur in einem blieb ſie ſich gleich: ſie ſah alles klar und beſchönigte nichts. Einmal trat ſie ſpät abends vor den Spiegel in ihrer Schlafſtube; die Lichter und Schatten flogen hin und her, und Rollo ſchlug draußen an, und im ſelben Augenblicke war es ihr, als ſähe ihr wer über die Schulter. Aber ſie beſann ſich raſch. „Ich weiß ſchon, was es iſt; es war nicht der,“ und ſie wies mit dem Finger nach dem Spukzimmer oben. „Es war 'was anderes … mein Gewiſſen … Effi, Du biſt verloren.“
Es ging aber doch weiter ſo, die Kugel war im Rollen, und was an einem Tage geſchah, machte das Thun des andern zur Notwendigkeit.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0303"n="294"/><fwplace="top"type="header">Effi Brieſt<lb/></fw> herein, und ſie fühlte, daß ſie wie eine Gefangene<lb/>ſei und nicht mehr heraus könne.</p><lb/><p>Sie litt ſchwer darunter und wollte ſich befreien.<lb/>
Aber wiewohl ſie ſtarker Empfindungen fähig war,<lb/>ſo war ſie doch keine ſtarke Natur; ihr fehlte die<lb/>
Nachhaltigkeit, und alle guten Anwandlungen gingen<lb/>
wieder vorüber. So trieb ſie denn weiter, heute,<lb/>
weil ſie's nicht ändern konnte, morgen, weil ſie's<lb/>
nicht ändern wollte. Das Verbotene, das Geheimnis¬<lb/>
volle hatte ſeine Macht über ſie.</p><lb/><p>So kam es, daß ſie ſich, von Natur frei und<lb/>
offen, in ein verſtecktes Komödienſpiel mehr und mehr<lb/>
hinein lebte. Mitunter erſchrack ſie, wie leicht es<lb/>
ihr wurde. Nur in einem blieb ſie ſich gleich: ſie<lb/>ſah alles klar und beſchönigte nichts. Einmal trat<lb/>ſie ſpät abends vor den Spiegel in ihrer Schlafſtube;<lb/>
die Lichter und Schatten flogen hin und her, und Rollo<lb/>ſchlug draußen an, und im ſelben Augenblicke war es<lb/>
ihr, als ſähe ihr wer über die Schulter. Aber ſie<lb/>
beſann ſich raſch. „Ich weiß ſchon, was es iſt; es<lb/>
war nicht <hirendition="#g">der</hi>,“ und ſie wies mit dem Finger nach<lb/>
dem Spukzimmer oben. „Es war 'was anderes …<lb/>
mein Gewiſſen … Effi, Du biſt verloren.“</p><lb/><p>Es ging aber doch weiter ſo, die Kugel war<lb/>
im Rollen, und was an einem Tage geſchah, machte<lb/>
das Thun des andern zur Notwendigkeit.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[294/0303]
Effi Brieſt
herein, und ſie fühlte, daß ſie wie eine Gefangene
ſei und nicht mehr heraus könne.
Sie litt ſchwer darunter und wollte ſich befreien.
Aber wiewohl ſie ſtarker Empfindungen fähig war,
ſo war ſie doch keine ſtarke Natur; ihr fehlte die
Nachhaltigkeit, und alle guten Anwandlungen gingen
wieder vorüber. So trieb ſie denn weiter, heute,
weil ſie's nicht ändern konnte, morgen, weil ſie's
nicht ändern wollte. Das Verbotene, das Geheimnis¬
volle hatte ſeine Macht über ſie.
So kam es, daß ſie ſich, von Natur frei und
offen, in ein verſtecktes Komödienſpiel mehr und mehr
hinein lebte. Mitunter erſchrack ſie, wie leicht es
ihr wurde. Nur in einem blieb ſie ſich gleich: ſie
ſah alles klar und beſchönigte nichts. Einmal trat
ſie ſpät abends vor den Spiegel in ihrer Schlafſtube;
die Lichter und Schatten flogen hin und her, und Rollo
ſchlug draußen an, und im ſelben Augenblicke war es
ihr, als ſähe ihr wer über die Schulter. Aber ſie
beſann ſich raſch. „Ich weiß ſchon, was es iſt; es
war nicht der,“ und ſie wies mit dem Finger nach
dem Spukzimmer oben. „Es war 'was anderes …
mein Gewiſſen … Effi, Du biſt verloren.“
Es ging aber doch weiter ſo, die Kugel war
im Rollen, und was an einem Tage geſchah, machte
das Thun des andern zur Notwendigkeit.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Fontane, Theodor: Effi Briest. Berlin, 1896, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_briest_1896/303>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.