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Fontane, Theodor: Effi Briest. Berlin, 1896.

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Effi Briest

Inzwischen war es Abend geworden, und die
Lampe brannte schon. Effi stellte sich ans Fenster
ihres Zimmers und sah auf das Wäldchen hinaus,
auf dessen Zweigen der glitzernde Schnee lag. Sie
war von dem Bilde ganz in Anspruch genommen
und kümmerte sich nicht um das, was hinter ihr in
dem Zimmer vorging. Als sie sich wieder umsah, be¬
merkte sie, daß Friedrich still und geräuschlos ein Kou¬
vert gelegt und ein Kabarett auf den Sofatisch gestellt
hatte. "Ja so, Abendbrot ... Da werd' ich mich
nun wohl setzen müssen." Aber es wollte nicht
schmecken, und so stand sie wieder auf und las den
an die Mama geschriebenen Brief noch einmal durch.
Hatte sie schon vorher ein Gefühl der Einsamkeit
gehabt, so jetzt doppelt. Was hätte sie darum gegeben,
wenn die beiden Jahnke'schen Rotköpfe jetzt eingetreten
wären oder selbst Hulda. Die war freilich immer
so sentimental und beschäftigte sich meist nur mit
ihren Triumphen, aber so zweifelhaft und anfechtbar
diese Triumphe waren, sie hätte sich in diesem Augen¬
blicke doch gern davon erzählen lassen. Schließlich
klappte sie den Flügel auf, um zu spielen; aber es
ging nicht. "Nein, dabei werd' ich vollends melan¬
cholisch; lieber lesen." Und so suchte sie nach einem
Buche. Das erste, was ihr zu Händen kam, war
ein dickes, rotes Reisehandbuch, alter Jahrgang, viel¬

Effi Brieſt

Inzwiſchen war es Abend geworden, und die
Lampe brannte ſchon. Effi ſtellte ſich ans Fenſter
ihres Zimmers und ſah auf das Wäldchen hinaus,
auf deſſen Zweigen der glitzernde Schnee lag. Sie
war von dem Bilde ganz in Anſpruch genommen
und kümmerte ſich nicht um das, was hinter ihr in
dem Zimmer vorging. Als ſie ſich wieder umſah, be¬
merkte ſie, daß Friedrich ſtill und geräuſchlos ein Kou¬
vert gelegt und ein Kabarett auf den Sofatiſch geſtellt
hatte. „Ja ſo, Abendbrot … Da werd' ich mich
nun wohl ſetzen müſſen.“ Aber es wollte nicht
ſchmecken, und ſo ſtand ſie wieder auf und las den
an die Mama geſchriebenen Brief noch einmal durch.
Hatte ſie ſchon vorher ein Gefühl der Einſamkeit
gehabt, ſo jetzt doppelt. Was hätte ſie darum gegeben,
wenn die beiden Jahnke'ſchen Rotköpfe jetzt eingetreten
wären oder ſelbſt Hulda. Die war freilich immer
ſo ſentimental und beſchäftigte ſich meiſt nur mit
ihren Triumphen, aber ſo zweifelhaft und anfechtbar
dieſe Triumphe waren, ſie hätte ſich in dieſem Augen¬
blicke doch gern davon erzählen laſſen. Schließlich
klappte ſie den Flügel auf, um zu ſpielen; aber es
ging nicht. „Nein, dabei werd' ich vollends melan¬
choliſch; lieber leſen.“ Und ſo ſuchte ſie nach einem
Buche. Das erſte, was ihr zu Händen kam, war
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[114/0123] Effi Brieſt Inzwiſchen war es Abend geworden, und die Lampe brannte ſchon. Effi ſtellte ſich ans Fenſter ihres Zimmers und ſah auf das Wäldchen hinaus, auf deſſen Zweigen der glitzernde Schnee lag. Sie war von dem Bilde ganz in Anſpruch genommen und kümmerte ſich nicht um das, was hinter ihr in dem Zimmer vorging. Als ſie ſich wieder umſah, be¬ merkte ſie, daß Friedrich ſtill und geräuſchlos ein Kou¬ vert gelegt und ein Kabarett auf den Sofatiſch geſtellt hatte. „Ja ſo, Abendbrot … Da werd' ich mich nun wohl ſetzen müſſen.“ Aber es wollte nicht ſchmecken, und ſo ſtand ſie wieder auf und las den an die Mama geſchriebenen Brief noch einmal durch. Hatte ſie ſchon vorher ein Gefühl der Einſamkeit gehabt, ſo jetzt doppelt. Was hätte ſie darum gegeben, wenn die beiden Jahnke'ſchen Rotköpfe jetzt eingetreten wären oder ſelbſt Hulda. Die war freilich immer ſo ſentimental und beſchäftigte ſich meiſt nur mit ihren Triumphen, aber ſo zweifelhaft und anfechtbar dieſe Triumphe waren, ſie hätte ſich in dieſem Augen¬ blicke doch gern davon erzählen laſſen. Schließlich klappte ſie den Flügel auf, um zu ſpielen; aber es ging nicht. „Nein, dabei werd' ich vollends melan¬ choliſch; lieber leſen.“ Und ſo ſuchte ſie nach einem Buche. Das erſte, was ihr zu Händen kam, war ein dickes, rotes Reiſehandbuch, alter Jahrgang, viel¬

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Effi Briest. Berlin, 1896, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_briest_1896/123>, abgerufen am 27.11.2024.