Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 4: Spreeland. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

ständniß und jedenfalls über Wunsch und Bedürfniß all derer
hinausging, die dadurch beglückt werden sollten. Beide Damen
verkannten die bäuerliche Natur, unterließen es, die Macht der
Gewohnheit und Sitte gebührend in Rechnung zu stellen und
scheiterten deshalb in allem, was über die directe persönliche
Hilfe hinauslag und im besten Sinne reformatorisch gemeint, auf's
Allgemeine hin angesehen sein wollte.

Dies zeigte sich bei jeder ihrer Stiftungen: bei Grabcapelle,
Leichenhalle, Tabea-Haus, und zwar in immer gleicher oder doch
verwandter Weise.

Die Grabcapelle sammt Leichenhalle war darauf berechnet,
namentlich bei Typhus-Epidemien, vor den Gefahren der An-
steckung zu schützen. Aber das war lediglich im Sinne der Huma-
nität und keineswegs im Sinne der Siethner gedacht. In Siethen
verstieß es gegen das Herkommen, und jeder Tagelöhner und
Büdner sagte: "Gefahr hin, Gefahr her. Es paßt sich nicht und
ist schlecht und feige, solcher Gefahr aus dem Wege gehen zu wol-
len. Unser Vater oder Kind ist nun todt, ist uns genommen nach
Gottes Willen, und ob wir's bequem haben oder nicht, dieser
Todte, so lang er über der Erde, gehört in unser Haus und uns
liegt es ob an seinem Sarge zu wachen, unbekümmert darum ob
er uns nachzieht oder nicht." Es mag dies vor dem Verstande
schlecht bestehen, vor dem Herzen desto besser, und ich habe nicht
den Muth einer Gemeinde zu grollen, die lieber ihre Leichenhalle
zerfallen sehn als ihre Todten vor dem Begräbniß aus dem Auge
lassen will.

Ein Aehnliches ist es mit dem Tabea-Haus. Es kommt
-- darin seine Bestimmung erfüllend -- allerdings Armen- und
Waisenkindern zu gut, aber immer nur Waisenkindern aus dieser
oder jener oft sehr entfernten Stadtgemeinde, während noch kein
Siethner Kind als Pflegling in das Haus aufgenommen werden
konnte, selbst dann nicht, wenn beide Eltern weggestorben waren.
Es ist eben in solchem Falle der nächsten Anverwandten Amt und
Ehrensache für die Verwaisten einzutreten, und sie würden sich mit
einem nicht zu tilgenden Makel behaften, wenn sie sich dieser
Pflicht entschlagen wollten.

ſtändniß und jedenfalls über Wunſch und Bedürfniß all derer
hinausging, die dadurch beglückt werden ſollten. Beide Damen
verkannten die bäuerliche Natur, unterließen es, die Macht der
Gewohnheit und Sitte gebührend in Rechnung zu ſtellen und
ſcheiterten deshalb in allem, was über die directe perſönliche
Hilfe hinauslag und im beſten Sinne reformatoriſch gemeint, auf’s
Allgemeine hin angeſehen ſein wollte.

Dies zeigte ſich bei jeder ihrer Stiftungen: bei Grabcapelle,
Leichenhalle, Tabea-Haus, und zwar in immer gleicher oder doch
verwandter Weiſe.

Die Grabcapelle ſammt Leichenhalle war darauf berechnet,
namentlich bei Typhus-Epidemien, vor den Gefahren der An-
ſteckung zu ſchützen. Aber das war lediglich im Sinne der Huma-
nität und keineswegs im Sinne der Siethner gedacht. In Siethen
verſtieß es gegen das Herkommen, und jeder Tagelöhner und
Büdner ſagte: „Gefahr hin, Gefahr her. Es paßt ſich nicht und
iſt ſchlecht und feige, ſolcher Gefahr aus dem Wege gehen zu wol-
len. Unſer Vater oder Kind iſt nun todt, iſt uns genommen nach
Gottes Willen, und ob wir’s bequem haben oder nicht, dieſer
Todte, ſo lang er über der Erde, gehört in unſer Haus und uns
liegt es ob an ſeinem Sarge zu wachen, unbekümmert darum ob
er uns nachzieht oder nicht.“ Es mag dies vor dem Verſtande
ſchlecht beſtehen, vor dem Herzen deſto beſſer, und ich habe nicht
den Muth einer Gemeinde zu grollen, die lieber ihre Leichenhalle
zerfallen ſehn als ihre Todten vor dem Begräbniß aus dem Auge
laſſen will.

Ein Aehnliches iſt es mit dem Tabea-Haus. Es kommt
— darin ſeine Beſtimmung erfüllend — allerdings Armen- und
Waiſenkindern zu gut, aber immer nur Waiſenkindern aus dieſer
oder jener oft ſehr entfernten Stadtgemeinde, während noch kein
Siethner Kind als Pflegling in das Haus aufgenommen werden
konnte, ſelbſt dann nicht, wenn beide Eltern weggeſtorben waren.
Es iſt eben in ſolchem Falle der nächſten Anverwandten Amt und
Ehrenſache für die Verwaiſten einzutreten, und ſie würden ſich mit
einem nicht zu tilgenden Makel behaften, wenn ſie ſich dieſer
Pflicht entſchlagen wollten.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0420" n="404"/>
&#x017F;tändniß und jedenfalls über Wun&#x017F;ch und Bedürfniß all derer<lb/>
hinausging, die dadurch beglückt werden &#x017F;ollten. Beide Damen<lb/>
verkannten die bäuerliche Natur, unterließen es, die Macht der<lb/>
Gewohnheit und Sitte gebührend in Rechnung zu &#x017F;tellen und<lb/>
&#x017F;cheiterten deshalb in allem, was über die directe <hi rendition="#g">per&#x017F;önliche</hi><lb/>
Hilfe hinauslag und im be&#x017F;ten Sinne reformatori&#x017F;ch gemeint, auf&#x2019;s<lb/><hi rendition="#g">Allgemeine</hi> hin ange&#x017F;ehen &#x017F;ein wollte.</p><lb/>
              <p>Dies zeigte &#x017F;ich bei jeder ihrer Stiftungen: bei Grabcapelle,<lb/>
Leichenhalle, Tabea-Haus, und zwar in immer gleicher oder doch<lb/>
verwandter Wei&#x017F;e.</p><lb/>
              <p>Die Grabcapelle &#x017F;ammt Leichenhalle war darauf berechnet,<lb/>
namentlich bei Typhus-Epidemien, vor den Gefahren der An-<lb/>
&#x017F;teckung zu &#x017F;chützen. Aber das war lediglich im Sinne der Huma-<lb/>
nität und keineswegs im Sinne der Siethner gedacht. In Siethen<lb/>
ver&#x017F;tieß es gegen das Herkommen, und jeder Tagelöhner und<lb/>
Büdner &#x017F;agte: &#x201E;Gefahr hin, Gefahr her. Es paßt &#x017F;ich nicht und<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;chlecht und feige, &#x017F;olcher Gefahr aus dem Wege gehen zu wol-<lb/>
len. Un&#x017F;er Vater oder Kind i&#x017F;t nun todt, i&#x017F;t uns genommen nach<lb/>
Gottes Willen, und ob wir&#x2019;s bequem haben oder nicht, die&#x017F;er<lb/>
Todte, &#x017F;o lang er über der Erde, gehört in un&#x017F;er Haus und <hi rendition="#g">uns</hi><lb/>
liegt es ob an &#x017F;einem Sarge zu wachen, unbekümmert darum ob<lb/>
er uns nachzieht oder nicht.&#x201C; Es mag dies vor dem Ver&#x017F;tande<lb/>
&#x017F;chlecht be&#x017F;tehen, vor dem Herzen de&#x017F;to be&#x017F;&#x017F;er, und ich habe nicht<lb/>
den Muth einer Gemeinde zu grollen, die lieber ihre Leichenhalle<lb/>
zerfallen &#x017F;ehn als ihre Todten <hi rendition="#g">vor</hi> dem Begräbniß aus dem Auge<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en will.</p><lb/>
              <p>Ein Aehnliches i&#x017F;t es mit dem <hi rendition="#g">Tabea-Haus</hi>. Es kommt<lb/>
&#x2014; darin &#x017F;eine Be&#x017F;timmung erfüllend &#x2014; allerdings Armen- und<lb/>
Wai&#x017F;enkindern zu gut, aber immer nur Wai&#x017F;enkindern aus die&#x017F;er<lb/>
oder jener oft &#x017F;ehr entfernten Stadtgemeinde, während noch <hi rendition="#g">kein</hi><lb/>
Siethner Kind als Pflegling in das Haus aufgenommen werden<lb/>
konnte, &#x017F;elb&#x017F;t <hi rendition="#g">dann</hi> nicht, wenn beide Eltern wegge&#x017F;torben waren.<lb/>
Es i&#x017F;t eben in &#x017F;olchem Falle der näch&#x017F;ten Anverwandten Amt und<lb/>
Ehren&#x017F;ache für die Verwai&#x017F;ten einzutreten, und &#x017F;ie würden &#x017F;ich mit<lb/>
einem nicht zu tilgenden Makel behaften, wenn &#x017F;ie &#x017F;ich die&#x017F;er<lb/>
Pflicht ent&#x017F;chlagen wollten.</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[404/0420] ſtändniß und jedenfalls über Wunſch und Bedürfniß all derer hinausging, die dadurch beglückt werden ſollten. Beide Damen verkannten die bäuerliche Natur, unterließen es, die Macht der Gewohnheit und Sitte gebührend in Rechnung zu ſtellen und ſcheiterten deshalb in allem, was über die directe perſönliche Hilfe hinauslag und im beſten Sinne reformatoriſch gemeint, auf’s Allgemeine hin angeſehen ſein wollte. Dies zeigte ſich bei jeder ihrer Stiftungen: bei Grabcapelle, Leichenhalle, Tabea-Haus, und zwar in immer gleicher oder doch verwandter Weiſe. Die Grabcapelle ſammt Leichenhalle war darauf berechnet, namentlich bei Typhus-Epidemien, vor den Gefahren der An- ſteckung zu ſchützen. Aber das war lediglich im Sinne der Huma- nität und keineswegs im Sinne der Siethner gedacht. In Siethen verſtieß es gegen das Herkommen, und jeder Tagelöhner und Büdner ſagte: „Gefahr hin, Gefahr her. Es paßt ſich nicht und iſt ſchlecht und feige, ſolcher Gefahr aus dem Wege gehen zu wol- len. Unſer Vater oder Kind iſt nun todt, iſt uns genommen nach Gottes Willen, und ob wir’s bequem haben oder nicht, dieſer Todte, ſo lang er über der Erde, gehört in unſer Haus und uns liegt es ob an ſeinem Sarge zu wachen, unbekümmert darum ob er uns nachzieht oder nicht.“ Es mag dies vor dem Verſtande ſchlecht beſtehen, vor dem Herzen deſto beſſer, und ich habe nicht den Muth einer Gemeinde zu grollen, die lieber ihre Leichenhalle zerfallen ſehn als ihre Todten vor dem Begräbniß aus dem Auge laſſen will. Ein Aehnliches iſt es mit dem Tabea-Haus. Es kommt — darin ſeine Beſtimmung erfüllend — allerdings Armen- und Waiſenkindern zu gut, aber immer nur Waiſenkindern aus dieſer oder jener oft ſehr entfernten Stadtgemeinde, während noch kein Siethner Kind als Pflegling in das Haus aufgenommen werden konnte, ſelbſt dann nicht, wenn beide Eltern weggeſtorben waren. Es iſt eben in ſolchem Falle der nächſten Anverwandten Amt und Ehrenſache für die Verwaiſten einzutreten, und ſie würden ſich mit einem nicht zu tilgenden Makel behaften, wenn ſie ſich dieſer Pflicht entſchlagen wollten.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Fontanes "Wanderungen" erschienen zuerst in Forts… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg04_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg04_1882/420
Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 4: Spreeland. Berlin, 1882, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg04_1882/420>, abgerufen am 01.06.2024.