Nur der fliegende Buchhändler fehlt noch, der die "Schönheiten Freienwalde's", besungen und lithographirt, mit beredter Zunge anzupreisen verstände.
Freienwalde ist ein Badeort, eine Fremdenstadt und trägt den Charakter davon zur Schau; was ihm aber ein ganz eigenthüm- liches Gepräge giebt, das ist das, daß alle Bade- und Brunnen- gäste, alle Fremden, die sich hier zusammen finden, eigentlich keine Fremden, sondern märkische Nachbarn, Fremde aus nächster Nähe sind. Dadurch ist der Charakter des Bades vorgeschrieben. Es ist ein märkisches Bad und zeigt als solches in allem jene Schlichtheit und Leichtbegnüglichkeit, die (einzelne Residenz-Aus- nahmen zugegeben) noch immer einen Grundzug unseres märkischen Wesens bilden. Zum Theil viel mehr noch, als wir selber wissen. Freienwalde ist kein Roulette- und Equipagen-Bad, kein Bad des Rollstuhls und des galonnirten Bedienten, am wenigsten ein Bad der 5 mal gewechselten Toilette. Der breite Stempel, den die ächten und unächten Engländer seit 50 Jahren allen europäischen Badeörten aufzudrücken wußten, hier fehlt er noch, hier ist der complicirte "Breakfast-Tisch" noch ein kaum geahntes Geheimniß, hier wird noch gefrühstückt, hier sucht noch kein grüner und schwarzer Thee die alte Herrschaft des Morgenkaffee zu untergra- ben, hier herrscht noch die vaterländische Semmel und weiß nichts von Butter-Toast und Muffin, des Luftbrodes (aerated bread) und anderer Neuerungen von jenseit des Kanals ganz zu geschweigen.
Und einfach wie die Frühstücksfrage, so löst sich auch die Frage des Kostüms. Der Shawl, der früher eine Mantille, oder die Mantille, die früher ein Shawl war, der Hut mit der neuen "Rüsche", der Handschuh, der drei mal durch die Brönner-Probe ging, -- hier haben sie noch Hausrecht, und das 12 Jahr ge- diente Leihbibliothekenbuch, hier ruht es noch frei und offen, auf dem Antimakassar-Stuhl, mit der ganzen Unbefangenheit eines guten Gewissens. Nichts von Hyperkultur, wenig von Comfort. Während überall sonst ein gewisser Kosmopolitismus die Eigenart jener Städte, die das zweifelhafte Glück haben "Badeörter" zu
Nur der fliegende Buchhändler fehlt noch, der die „Schönheiten Freienwalde’s“, beſungen und lithographirt, mit beredter Zunge anzupreiſen verſtände.
Freienwalde iſt ein Badeort, eine Fremdenſtadt und trägt den Charakter davon zur Schau; was ihm aber ein ganz eigenthüm- liches Gepräge giebt, das iſt das, daß alle Bade- und Brunnen- gäſte, alle Fremden, die ſich hier zuſammen finden, eigentlich keine Fremden, ſondern märkiſche Nachbarn, Fremde aus nächſter Nähe ſind. Dadurch iſt der Charakter des Bades vorgeſchrieben. Es iſt ein märkiſches Bad und zeigt als ſolches in allem jene Schlichtheit und Leichtbegnüglichkeit, die (einzelne Reſidenz-Aus- nahmen zugegeben) noch immer einen Grundzug unſeres märkiſchen Weſens bilden. Zum Theil viel mehr noch, als wir ſelber wiſſen. Freienwalde iſt kein Roulette- und Equipagen-Bad, kein Bad des Rollſtuhls und des galonnirten Bedienten, am wenigſten ein Bad der 5 mal gewechſelten Toilette. Der breite Stempel, den die ächten und unächten Engländer ſeit 50 Jahren allen europäiſchen Badeörten aufzudrücken wußten, hier fehlt er noch, hier iſt der complicirte „Breakfaſt-Tiſch“ noch ein kaum geahntes Geheimniß, hier wird noch gefrühſtückt, hier ſucht noch kein grüner und ſchwarzer Thee die alte Herrſchaft des Morgenkaffee zu untergra- ben, hier herrſcht noch die vaterländiſche Semmel und weiß nichts von Butter-Toaſt und Muffin, des Luftbrodes (aêrated bread) und anderer Neuerungen von jenſeit des Kanals ganz zu geſchweigen.
Und einfach wie die Frühſtücksfrage, ſo löſt ſich auch die Frage des Koſtüms. Der Shawl, der früher eine Mantille, oder die Mantille, die früher ein Shawl war, der Hut mit der neuen „Rüſche“, der Handſchuh, der drei mal durch die Brönner-Probe ging, — hier haben ſie noch Hausrecht, und das 12 Jahr ge- diente Leihbibliothekenbuch, hier ruht es noch frei und offen, auf dem Antimakaſſar-Stuhl, mit der ganzen Unbefangenheit eines guten Gewiſſens. Nichts von Hyperkultur, wenig von Comfort. Während überall ſonſt ein gewiſſer Kosmopolitismus die Eigenart jener Städte, die das zweifelhafte Glück haben „Badeörter“ zu
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Nur der fliegende Buchhändler fehlt noch, der die „Schönheiten
Freienwalde’s“, beſungen und lithographirt, mit beredter Zunge
anzupreiſen verſtände.
Freienwalde iſt ein Badeort, eine Fremdenſtadt und trägt den
Charakter davon zur Schau; was ihm aber ein ganz eigenthüm-
liches Gepräge giebt, das iſt das, daß alle Bade- und Brunnen-
gäſte, alle Fremden, die ſich hier zuſammen finden, eigentlich keine
Fremden, ſondern märkiſche Nachbarn, Fremde aus nächſter
Nähe ſind. Dadurch iſt der Charakter des Bades vorgeſchrieben.
Es iſt ein märkiſches Bad und zeigt als ſolches in allem jene
Schlichtheit und Leichtbegnüglichkeit, die (einzelne Reſidenz-Aus-
nahmen zugegeben) noch immer einen Grundzug unſeres märkiſchen
Weſens bilden. Zum Theil viel mehr noch, als wir ſelber wiſſen.
Freienwalde iſt kein Roulette- und Equipagen-Bad, kein Bad des
Rollſtuhls und des galonnirten Bedienten, am wenigſten ein Bad
der 5 mal gewechſelten Toilette. Der breite Stempel, den die
ächten und unächten Engländer ſeit 50 Jahren allen europäiſchen
Badeörten aufzudrücken wußten, hier fehlt er noch, hier iſt der
complicirte „Breakfaſt-Tiſch“ noch ein kaum geahntes Geheimniß,
hier wird noch gefrühſtückt, hier ſucht noch kein grüner und
ſchwarzer Thee die alte Herrſchaft des Morgenkaffee zu untergra-
ben, hier herrſcht noch die vaterländiſche Semmel und weiß nichts von
Butter-Toaſt und Muffin, des Luftbrodes (aêrated bread) und
anderer Neuerungen von jenſeit des Kanals ganz zu geſchweigen.
Und einfach wie die Frühſtücksfrage, ſo löſt ſich auch die
Frage des Koſtüms. Der Shawl, der früher eine Mantille, oder
die Mantille, die früher ein Shawl war, der Hut mit der neuen
„Rüſche“, der Handſchuh, der drei mal durch die Brönner-Probe
ging, — hier haben ſie noch Hausrecht, und das 12 Jahr ge-
diente Leihbibliothekenbuch, hier ruht es noch frei und offen, auf
dem Antimakaſſar-Stuhl, mit der ganzen Unbefangenheit eines
guten Gewiſſens. Nichts von Hyperkultur, wenig von Comfort.
Während überall ſonſt ein gewiſſer Kosmopolitismus die Eigenart
jener Städte, die das zweifelhafte Glück haben „Badeörter“ zu
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Fontanes "Wanderungen" erschienen zuerst in Forts… [mehr]
Fontanes "Wanderungen" erschienen zuerst in Fortsetzungen in der Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung 1859 bzw. im Morgenblatt für gebildete Leser (zwischen 1860 und 1864). Als Buchausgabe erschien der zweite Band "Das Oderland, Barnim, Lebus" 1863 bei W. Hertz in Berlin. In der Folge wurde der Text von Fontane mehrfach überarbeitet und erweitert. Für das DTA wurde die erste Auflage der Buchausgabe digitalisiert.
Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Berlin, 1863, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg02_1863/268>, abgerufen am 22.11.2024.
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