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Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Berlin, 1863.

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bewußtsein. Die Zeit soll noch erst kommen, wo die hohen
Kräfte des Lebens hier lebendig werden."

Seit jenem Briefe, der die damaligen (1838) Sittenzustände
des Bruchs, eher zu mild als zu streng schildert, sind 25 Jahre
vergangen, und dies Vierteljahrhundert hat bis auf einen gewissen
Punkt die Wünsche erfüllt, mit denen der Brief schließt. Es ist
besser geworden. Der bloße Geld- und Bauern-Stolz hat dem
Gefühl von den Pflichten des Reichthums Platz gemacht und an
die Stelle jener Selbstsucht, die nur an sich und den engsten Kreis
denkt, ist der wenigstens erwachende Sinn für das Allgemeine ge-
treten. Es dämmert eine Vorstellung in den Gemüthern von der
Gegenseitigkeit der Pflichten, eine Ahnung davon, daß die blanken
Thaler einen andern Zweck haben, als bei dem Nachbar Geizhals
im Kasten zu liegen, oder vom Bruder Verschwender bei vingt
un
und "blüchern" vergeudet zu werden. Die üblen Folgen des
"rasch reich geworden seins" verschwinden mehr und mehr, und
die Segnungen festen, soliden, ererbten Besitzes treten in den Vor-
dergrund. Man läßt den Schein fallen und fängt an sich des
Lacks, der, dünn aufgetragen, überall absplitterte, zu schämen.
Man fühlt sich wieder mehr als Bauer (nur an dem Wort
nimmt man Anstoß), und will nicht mehr und nicht weniger sein,
als man ist. Das Adels- und Standesgefühl, was durch Jahr-
hunderte hin die niedersächsischen Bauern so ausgezeichnet hat,
fängt auch an bei den Oderbrüchern lebendig zu werden. Mögen
sie, nach der wilden Jugend ihres ersten Jahrhunderts, immer fe-
ster werden in Schlichtheit, Sitte, Zucht.



bewußtſein. Die Zeit ſoll noch erſt kommen, wo die hohen
Kräfte des Lebens hier lebendig werden.“

Seit jenem Briefe, der die damaligen (1838) Sittenzuſtände
des Bruchs, eher zu mild als zu ſtreng ſchildert, ſind 25 Jahre
vergangen, und dies Vierteljahrhundert hat bis auf einen gewiſſen
Punkt die Wünſche erfüllt, mit denen der Brief ſchließt. Es iſt
beſſer geworden. Der bloße Geld- und Bauern-Stolz hat dem
Gefühl von den Pflichten des Reichthums Platz gemacht und an
die Stelle jener Selbſtſucht, die nur an ſich und den engſten Kreis
denkt, iſt der wenigſtens erwachende Sinn für das Allgemeine ge-
treten. Es dämmert eine Vorſtellung in den Gemüthern von der
Gegenſeitigkeit der Pflichten, eine Ahnung davon, daß die blanken
Thaler einen andern Zweck haben, als bei dem Nachbar Geizhals
im Kaſten zu liegen, oder vom Bruder Verſchwender bei vingt
un
und „blüchern“ vergeudet zu werden. Die üblen Folgen des
„raſch reich geworden ſeins“ verſchwinden mehr und mehr, und
die Segnungen feſten, ſoliden, ererbten Beſitzes treten in den Vor-
dergrund. Man läßt den Schein fallen und fängt an ſich des
Lacks, der, dünn aufgetragen, überall abſplitterte, zu ſchämen.
Man fühlt ſich wieder mehr als Bauer (nur an dem Wort
nimmt man Anſtoß), und will nicht mehr und nicht weniger ſein,
als man iſt. Das Adels- und Standesgefühl, was durch Jahr-
hunderte hin die niederſächſiſchen Bauern ſo ausgezeichnet hat,
fängt auch an bei den Oderbrüchern lebendig zu werden. Mögen
ſie, nach der wilden Jugend ihres erſten Jahrhunderts, immer fe-
ſter werden in Schlichtheit, Sitte, Zucht.



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[223/0235] bewußtſein. Die Zeit ſoll noch erſt kommen, wo die hohen Kräfte des Lebens hier lebendig werden.“ Seit jenem Briefe, der die damaligen (1838) Sittenzuſtände des Bruchs, eher zu mild als zu ſtreng ſchildert, ſind 25 Jahre vergangen, und dies Vierteljahrhundert hat bis auf einen gewiſſen Punkt die Wünſche erfüllt, mit denen der Brief ſchließt. Es iſt beſſer geworden. Der bloße Geld- und Bauern-Stolz hat dem Gefühl von den Pflichten des Reichthums Platz gemacht und an die Stelle jener Selbſtſucht, die nur an ſich und den engſten Kreis denkt, iſt der wenigſtens erwachende Sinn für das Allgemeine ge- treten. Es dämmert eine Vorſtellung in den Gemüthern von der Gegenſeitigkeit der Pflichten, eine Ahnung davon, daß die blanken Thaler einen andern Zweck haben, als bei dem Nachbar Geizhals im Kaſten zu liegen, oder vom Bruder Verſchwender bei vingt un und „blüchern“ vergeudet zu werden. Die üblen Folgen des „raſch reich geworden ſeins“ verſchwinden mehr und mehr, und die Segnungen feſten, ſoliden, ererbten Beſitzes treten in den Vor- dergrund. Man läßt den Schein fallen und fängt an ſich des Lacks, der, dünn aufgetragen, überall abſplitterte, zu ſchämen. Man fühlt ſich wieder mehr als Bauer (nur an dem Wort nimmt man Anſtoß), und will nicht mehr und nicht weniger ſein, als man iſt. Das Adels- und Standesgefühl, was durch Jahr- hunderte hin die niederſächſiſchen Bauern ſo ausgezeichnet hat, fängt auch an bei den Oderbrüchern lebendig zu werden. Mögen ſie, nach der wilden Jugend ihres erſten Jahrhunderts, immer fe- ſter werden in Schlichtheit, Sitte, Zucht.

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Berlin, 1863, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg02_1863/235>, abgerufen am 28.04.2024.