bewußtsein. Die Zeit soll noch erst kommen, wo die hohen Kräfte des Lebens hier lebendig werden."
Seit jenem Briefe, der die damaligen (1838) Sittenzustände des Bruchs, eher zu mild als zu streng schildert, sind 25 Jahre vergangen, und dies Vierteljahrhundert hat bis auf einen gewissen Punkt die Wünsche erfüllt, mit denen der Brief schließt. Es ist besser geworden. Der bloße Geld- und Bauern-Stolz hat dem Gefühl von den Pflichten des Reichthums Platz gemacht und an die Stelle jener Selbstsucht, die nur an sich und den engsten Kreis denkt, ist der wenigstens erwachende Sinn für das Allgemeine ge- treten. Es dämmert eine Vorstellung in den Gemüthern von der Gegenseitigkeit der Pflichten, eine Ahnung davon, daß die blanken Thaler einen andern Zweck haben, als bei dem Nachbar Geizhals im Kasten zu liegen, oder vom Bruder Verschwender bei vingt un und "blüchern" vergeudet zu werden. Die üblen Folgen des "rasch reich geworden seins" verschwinden mehr und mehr, und die Segnungen festen, soliden, ererbten Besitzes treten in den Vor- dergrund. Man läßt den Schein fallen und fängt an sich des Lacks, der, dünn aufgetragen, überall absplitterte, zu schämen. Man fühlt sich wieder mehr als Bauer (nur an dem Wort nimmt man Anstoß), und will nicht mehr und nicht weniger sein, als man ist. Das Adels- und Standesgefühl, was durch Jahr- hunderte hin die niedersächsischen Bauern so ausgezeichnet hat, fängt auch an bei den Oderbrüchern lebendig zu werden. Mögen sie, nach der wilden Jugend ihres ersten Jahrhunderts, immer fe- ster werden in Schlichtheit, Sitte, Zucht.
bewußtſein. Die Zeit ſoll noch erſt kommen, wo die hohen Kräfte des Lebens hier lebendig werden.“
Seit jenem Briefe, der die damaligen (1838) Sittenzuſtände des Bruchs, eher zu mild als zu ſtreng ſchildert, ſind 25 Jahre vergangen, und dies Vierteljahrhundert hat bis auf einen gewiſſen Punkt die Wünſche erfüllt, mit denen der Brief ſchließt. Es iſt beſſer geworden. Der bloße Geld- und Bauern-Stolz hat dem Gefühl von den Pflichten des Reichthums Platz gemacht und an die Stelle jener Selbſtſucht, die nur an ſich und den engſten Kreis denkt, iſt der wenigſtens erwachende Sinn für das Allgemeine ge- treten. Es dämmert eine Vorſtellung in den Gemüthern von der Gegenſeitigkeit der Pflichten, eine Ahnung davon, daß die blanken Thaler einen andern Zweck haben, als bei dem Nachbar Geizhals im Kaſten zu liegen, oder vom Bruder Verſchwender bei vingt un und „blüchern“ vergeudet zu werden. Die üblen Folgen des „raſch reich geworden ſeins“ verſchwinden mehr und mehr, und die Segnungen feſten, ſoliden, ererbten Beſitzes treten in den Vor- dergrund. Man läßt den Schein fallen und fängt an ſich des Lacks, der, dünn aufgetragen, überall abſplitterte, zu ſchämen. Man fühlt ſich wieder mehr als Bauer (nur an dem Wort nimmt man Anſtoß), und will nicht mehr und nicht weniger ſein, als man iſt. Das Adels- und Standesgefühl, was durch Jahr- hunderte hin die niederſächſiſchen Bauern ſo ausgezeichnet hat, fängt auch an bei den Oderbrüchern lebendig zu werden. Mögen ſie, nach der wilden Jugend ihres erſten Jahrhunderts, immer fe- ſter werden in Schlichtheit, Sitte, Zucht.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0235"n="223"/><hirendition="#g">bewußtſein</hi>. Die Zeit ſoll noch erſt kommen, wo die <hirendition="#g">hohen</hi><lb/>
Kräfte des Lebens hier lebendig werden.“</hi></p><lb/><p>Seit jenem Briefe, der die damaligen (1838) Sittenzuſtände<lb/>
des Bruchs, eher zu mild als zu ſtreng ſchildert, ſind 25 Jahre<lb/>
vergangen, und dies Vierteljahrhundert hat bis auf einen gewiſſen<lb/>
Punkt die Wünſche erfüllt, mit denen der Brief ſchließt. Es iſt<lb/>
beſſer geworden. Der bloße Geld- und Bauern-Stolz hat dem<lb/>
Gefühl von den <hirendition="#g">Pflichten</hi> des Reichthums Platz gemacht und an<lb/>
die Stelle jener Selbſtſucht, die nur an ſich und den engſten Kreis<lb/>
denkt, iſt der wenigſtens erwachende Sinn für das Allgemeine ge-<lb/>
treten. Es dämmert eine Vorſtellung in den Gemüthern von der<lb/>
Gegenſeitigkeit der Pflichten, eine Ahnung davon, daß die blanken<lb/>
Thaler einen andern Zweck haben, als bei dem Nachbar Geizhals<lb/>
im Kaſten zu liegen, oder vom Bruder Verſchwender bei <hirendition="#aq">vingt<lb/>
un</hi> und „blüchern“ vergeudet zu werden. Die üblen Folgen des<lb/>„raſch reich geworden ſeins“ verſchwinden mehr und mehr, und<lb/>
die Segnungen feſten, ſoliden, ererbten Beſitzes treten in den Vor-<lb/>
dergrund. Man läßt den <hirendition="#g">Schein</hi> fallen und fängt an ſich des<lb/>
Lacks, der, dünn aufgetragen, überall abſplitterte, zu ſchämen.<lb/>
Man fühlt ſich wieder mehr als <hirendition="#g">Bauer</hi> (nur an dem Wort<lb/>
nimmt man Anſtoß), und will nicht mehr und nicht weniger ſein,<lb/>
als man iſt. Das Adels- und Standesgefühl, was durch Jahr-<lb/>
hunderte hin die niederſächſiſchen Bauern ſo ausgezeichnet hat,<lb/>
fängt auch an bei den Oderbrüchern lebendig zu werden. Mögen<lb/>ſie, nach der wilden Jugend ihres erſten Jahrhunderts, immer fe-<lb/>ſter werden in Schlichtheit, Sitte, Zucht.</p></div></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></body></text></TEI>
[223/0235]
bewußtſein. Die Zeit ſoll noch erſt kommen, wo die hohen
Kräfte des Lebens hier lebendig werden.“
Seit jenem Briefe, der die damaligen (1838) Sittenzuſtände
des Bruchs, eher zu mild als zu ſtreng ſchildert, ſind 25 Jahre
vergangen, und dies Vierteljahrhundert hat bis auf einen gewiſſen
Punkt die Wünſche erfüllt, mit denen der Brief ſchließt. Es iſt
beſſer geworden. Der bloße Geld- und Bauern-Stolz hat dem
Gefühl von den Pflichten des Reichthums Platz gemacht und an
die Stelle jener Selbſtſucht, die nur an ſich und den engſten Kreis
denkt, iſt der wenigſtens erwachende Sinn für das Allgemeine ge-
treten. Es dämmert eine Vorſtellung in den Gemüthern von der
Gegenſeitigkeit der Pflichten, eine Ahnung davon, daß die blanken
Thaler einen andern Zweck haben, als bei dem Nachbar Geizhals
im Kaſten zu liegen, oder vom Bruder Verſchwender bei vingt
un und „blüchern“ vergeudet zu werden. Die üblen Folgen des
„raſch reich geworden ſeins“ verſchwinden mehr und mehr, und
die Segnungen feſten, ſoliden, ererbten Beſitzes treten in den Vor-
dergrund. Man läßt den Schein fallen und fängt an ſich des
Lacks, der, dünn aufgetragen, überall abſplitterte, zu ſchämen.
Man fühlt ſich wieder mehr als Bauer (nur an dem Wort
nimmt man Anſtoß), und will nicht mehr und nicht weniger ſein,
als man iſt. Das Adels- und Standesgefühl, was durch Jahr-
hunderte hin die niederſächſiſchen Bauern ſo ausgezeichnet hat,
fängt auch an bei den Oderbrüchern lebendig zu werden. Mögen
ſie, nach der wilden Jugend ihres erſten Jahrhunderts, immer fe-
ſter werden in Schlichtheit, Sitte, Zucht.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Fontanes "Wanderungen" erschienen zuerst in Forts… [mehr]
Fontanes "Wanderungen" erschienen zuerst in Fortsetzungen in der Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung 1859 bzw. im Morgenblatt für gebildete Leser (zwischen 1860 und 1864). Als Buchausgabe erschien der zweite Band "Das Oderland, Barnim, Lebus" 1863 bei W. Hertz in Berlin. In der Folge wurde der Text von Fontane mehrfach überarbeitet und erweitert. Für das DTA wurde die erste Auflage der Buchausgabe digitalisiert.
Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Berlin, 1863, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg02_1863/235>, abgerufen am 31.01.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.